Gärtner, Henriette

Klang, Kraft und Kinematik beim Klavierspiel

Über ihren Zusammenhang, aufgezeigt an Werken aus der Klavierliteratur, mit CD

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wißner, Augsburg 2013
erschienen in: üben & musizieren 1/2014 , Seite 50

Diese Warnung vorweg: Wir haben es hier mit einer Doktorarbeit zu tun, von der Methode her eine biomechanisch-statistische Untersuchung, vom Stil her eine Mischung aus Zettelkasten und Zahlenwut, harte Laborprosa. Worum geht es? Die Autorin bat 15 Profis, die beiden Anfangstakte der Wanderer-Fantasie sowie drei Takte aus einer Beethoven-Bagatelle zu spielen, und hat jeweils die auf die Tasten ausgeübte Druckkraft mittels dort aufgeklebter Sensoren gemessen. Die Musikschnipsel – dokumentiert auf der beigelegten CD – wurden einer professionellen Jury vorgespielt: Die Fachleute sollten beurteilen, wie „hart (metallisch), differenziert (Stimmführung in Akkorden und Oktaven),  und kräftig (voll und satt – nicht unbedingt laut)“ gespielt wurde, was eine Einteilung in zwei Gruppen ergab, die „gute“ Gruppe A, die nicht hart spielt usw., und die nicht so gut spielende B-Gruppe. Dann hat Gärtner Korrelationen zwischen Kraftkurven, Notentext und A-B-Unterteilung ausgerechnet, was sie uns auf exakt 100 Seiten penibelst vorführt.
Was ist bei dieser Art von Wissenschaft herausgekommen? „Die musikalische Notation ist in der Kraftstruktur erkennbar (im ff deutlicher als im pp).“ Sprich: Das Messverfahren ist nicht völlig blind gegenüber der Faktur des Textes und seiner musika­lischen Realisierung. Weiterhin stellte sich heraus: Die Gruppe A erzielte mit weniger Kraftaufwand mehr Lautstärke, was die Vermutung nahe legt, dass „die Kraft ab dem Erreichen einer gewissen Lautstärke quasi vergeudet, ja sogar kontraproduktiv für die Klangschönheit ist“ und dass folglich „für einen schönen Klang im ff nicht die Kraft alleine entscheidet“. Falls also jemand der Meinung ist, je stärker man auf einen Flügel einschlägt, desto schöner werde der Klang, dann wird ihm hier, mit staunenswertem Aufwand, nachgewiesen, dass er sich im Irrtum befindet.
Bei pp ist es aber anders: Hier wendet Gruppe A mehr Kraft auf als B, „ein Indiz dafür, dass es ein großer Irrtum ist, dass beim pp-Spiel so wenig Kraft wie möglich aufgebracht werden soll, denn der Klang wird dann dünn und unkonkret“. Das Ergebnis ist festhaltenswert, neu ist es nicht: „pp im Klang heißt ff im Rücken“, sagte György Sebök in seinen Klavierkursen, wobei dieser Aphorismus gleich noch einen Anhaltspunkt gibt, wie man denn ein schönes Pianissimo erzeugen könnte.
Hinweise dieser Art wird man in Gärtners Buch vergeblich suchen. Die Frage etwa, wie man am Klavier weniger knallig und ohne klirrende Obertöne spielen kann, klingt in der einleitenden Zitatensammlung an, wird aber nicht weiter erörtert. Die Beobachtung, dass es neben der „aktiven“ eine „passive“ Kraft gibt, die nach dem Anschlag sinnlos auf die Taste drückt, kann vielleicht manche dazu anregen, ihre Spieltechnik zu überdenken, jedoch: in welche Richtung? Das Buch löst nicht entfernt ein, was sein Titel verspricht.
Gerhard Herrgott