Krones, Hartmut

Klang-Rede

Musik und Rhetorik in der Musikgeschichte

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2009 , Seite 24

Dass die Musik eine Art von Sprache sei und daher ­rhetorischen Gesetzen zu folgen habe, ist eine Vorstellung, die seit den Anfängen der abend­ländischen Musikent­wick­­lung allen bewusst war. Wenn wir uns heute der Musik des Barockzeitalters nähern, sollten wir uns ­be­mühen, diesem Bewusstsein wieder nahe zu kommen.

Im Jahr 1325 verglich Marchettus von Padua, eine der wichtigsten Musikerpersönlichkeiten des italienischen Trecento, die „colores ad pulcritudinem consonantiarum“ in der Musik mit den „colores rhetorici ad pulcritudinem sententiarum“ in der Grammatik;1 die Farbwirkungen der Zusammenklänge glichen also seiner Meinung nach den rhetorischen Mitteln, die den Schönheiten der Sprache gewidmet seien. Und um den jeweiligen Textausdruck (in der Vokalmusik) adäquat zu erreichen, dürften die Komponisten sich sogar „falscher“ Wendungen bedienen. Ein halbes Jahrhundert später forderte Heinrich Eger von Kalkar: „Ornatus habet musica proprios sicut rhetorica“2 – die Musik hätte wie die Rhetorik ganz spezifische Mittel für den „Schmuck“ (der „musikalischen Rede“).
Die beiden genannten Autoren sprachen damit ganz deutlich aus, was seit den Anfängen der abendländischen Musikentwicklung (und zuvor schon in der Antike) allen bewusst war: dass die Musik selbst eine Art von „Sprache“ sei und als solche rhetorischen Gesetzen zu gehorchen habe, desgleichen aber auch dieselben bzw. ähnliche (auch semantische) Hilfsmittel wie die (sprachliche) Rhetorik einsetzen könne. Bereits die Notation hatte ihren Ausgang bei Rhetorik und Prosodie genommen – die Neumen waren Weiterentwicklungen der spätantiken prosodischen Zeichen – und auch die gesamte spätmittelalterliche Modalrhythmik fußte auf einer versmaßadäquaten Setzung von ­Längen und Kürzen und entwickelte aus den sechs Grund-Versarten ­Trochäus, Jambus, Daktylus, Anapäst, Spondeus und Tribrachys die rhythmischen „modi“.
Gemäß der Basierung der Musik auf dem sprachähnlichen Vortrag entstanden nun Gattungen, die von „rhetorisch-dynamischen Formvorstellungen“3 geprägt waren (wie der Conductus) oder direkt von deklamatorischen Gesichtspunkten aus entwickelt wurden – in Deutschland etwa die prosodisch deklamierten Chorgesänge der Schuldramen oder die gleichsam „sprechend“ vorgetragenen Lieder der Gesellschaftskunst der Renaissance; in Frankreich homorhythmisch verfasste Psalmen „en vers mesurez“ oder im Barock das (das jeweilige Versmaß in Rhythmen übersetzende) „französische Rezitativ“; in Italien deklamatorisch rhythmisierte Frottolen oder schließlich der gesamte „Sprechgesang“ der Monodie und der frühen Oper, die viele antike Vorstellungen aus Rhetorik, Prosodie und Poetik verwirklichte.
Das allgemeine Bewusstsein von einer tiefgehenden Verwandtschaft von Musik und Rhetorik verfestigte sich also immer mehr, und diese Verwandtschaft drückte sich insbesondere im Barockzeitalter auf drei Ebenen aus, die im Folgenden näher erläutert werden.

1 Marchettus de Padua: Pomerium, hg. von Giuseppe Vecchi, Rom 1961, S. 71.
2 Heinrich Hüschen: Das Cantuagium des Heinrich Eger von Kalkar 1328-1408, Köln 1952, S. 57.
3 Fritz Reckow: „processus und structura. Über Gattungstradition und Formverständnis im Mittelalter“, in: Musiktheorie 1/1986, S. 20.

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