Gaul, Magnus

Klassik im Instrumental­unterricht

Ein Plädoyer für die Vermittlung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten in einem interdisziplinären Kontext

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2010 , Seite 12

In diesem Beitrag soll versucht werden, sich über die persönliche Interpretation hinaus den Grund­zügen „klassischen“ Empfindens in der Musik anzunähern. Dies ließe Hörende wie Interpretierende möglicherweise zu einer Bewertung gelangen, die die Werke der Klassik in ihrem Repertoire unverzichtbar machen. Letztendlich werden sie damit auch zu einem wichtigen Bestandteil innerhalb eines interdisziplinären Kontextes, von dem ein eigener Charme im Instrumental­unterricht ausgeht.

In den Programmen der Vortragsabende an Musikschulen, bei Wettbewerben wie „Jugend musiziert“, in Aufnahmeprüfungen an Musikhochschulen und in vielen anderen Vorspielsituationen sind die Werke der Klassik oft Schwerpunkt des instrumentalen Vortrags. Neben den zurecht bestehenden formalen Kriterien, die die Teilnahme an Wettbewerben regeln, stellt sich im Einzelfall die Frage, was Instrumentallehrkräfte und -schülerInnen dazu bewegt, Stücken z. B. aus der Wiener Klassik den Vorzug vor anderen Werken zu geben. Ist es allein das ästhetische Empfinden, das hierüber entscheidet? Oder sollen bestimmte musikalische Abläufe und Vorstellungen zum Erklingen gebracht werden?

Primat der Melodie

Die Melodiebezogenheit ist ein markantes Kennzeichen vieler Kompositionen der Klassik. An die Stelle der barocken Gestaltung einzelner Themen und der damit verbundenen horizontalen Satzanlage – großenteils im Gewande der Polyfonie – tritt der homofone Instrumentalsatz mit der Melodie als aussagekräftiger Trägerin des musikalischen Satzes. Fließende, gefällige Melodien, die den „galanten Stil“ charakterisieren, schaffen Durchsichtigkeit und Klarheit, die den Kompositionen eine individuelle Attraktivität verleihen. Kurzgliedrige, periodisierende Abschnitte, die bisweilen von Pausen in sprechende Phrasen unterteilt sind, werden übersichtlich und können im Ausdruck wechseln oder kontrastieren.
InstrumentalschülerInnen kommt diese musikalische Gestaltung in einem bestimmten Reifestadium entgegen, sind die Stücke doch für sie überschaubar, trans­parent und daher in vielen Fällen auch spieltechnisch „leichter“ zu bewältigen. Die Sangbarkeit der Melodien dürfte die Beliebtheit vieler Kompositionen unterstützen. Zudem führt die Bedeutung der Melodie in der Klassik zu dem neuen Anspruch, im Übergang zum „empfindsamen Stil“ Gefühle direkt und unmittelbar ­anzusprechen und dabei verständlich und natürlich zu bleiben. Expressive Zusätze wie Chromatik, Verzierungen, Vorhalts- bzw. Seufzerfiguren in der Melodiegestaltung verstärken die Funktion als Bedeutungsträger und schaffen im Detail auch im Instrumentalunterricht zusätzliche musikalische Anreize, die sukzessive zu einer Reifung des Schülers führen.
Die Emanzipation der Melodie als Bedeutungsträgerin führt im Bereich der Harmonik zwangsläufig zu einer Unterordnung, die fortan satztechnisch einfacher, flächiger gestaltet ist und häufig über weite Strecken gleich bleibt. Der dichte harmonische Satz des Barocks hatte vor allem noch im Generalbass seine tragende Funktion. Durch die Loslösung von diesem Bedeutungsträger wird die Bass-Stimme in der Klassik melodisch beweglicher. In der Begleitung verringert sich die Möglichkeit harmonischer „Einfärbung“; stattdessen unterstützt sie die Melodie mit Hilfe akkordischer Anlage, bisweilen einfach, aber effektvoll gesetzt. Nach Einschätzung des Musiktheoretikers Johann Mattheson (1681-1764) bewegt „die bloße Melodie […] in ihrer edlen Einfalt, Klarheit und Deutlichkeit die Herzen [sogar] solchergestalt, dass sie oft alle harmonische[n] Künste übertrifft“.1

1 Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister. Gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können, und vollkommen inne haben muß, der einer Capelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will, Hamburg 1739.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2010.