Wiedemann, Herbert
Klavier spielend begreifen
Improvisatorisches Lernen – kreatives Spielen
Herbert Wiedemann hat sich um das Thema Improvisation im Klavierunterricht bereits große Verdienste erworben. In Unterrichtswerken wie Impulsives Klavierspiel, Improvisiertes Liedspiel oder Improvisatorische Spiele mit Kabalewski & Co (Letzteres zusammen mit Detlef Pauligk) entwickelt er immer neue Modelle, die von sehr einfachen, motivierenden Aufgabenstellungen schrittweise zu komplexeren Formen des Improvisierens führen. Die bei SchülerInnen, aber fast noch ausgeprägter bei LehrerInnen verbreitete Scheu vor dem Spiel ohne Noten kann auf diese Weise abgebaut und das Improvisieren als lustbetonte und ausdrucksstarke Form des Musizierens entdeckt werden.
Auch Wiedemanns neue Publikation Klavier spielend begreifen ist diesem Anliegen verpflichtet. Der Autor stellt in diesem Werk sein Konzept des „improvisatorischen Lernens“ vor, das auf eine Verknüpfung von Improvisation und Literaturspiel abzielt. Die SchülerInnen beschäftigen sich improvisierend mit wichtigen Bausteinen eines Klavierstücks (z. B. einer charakteristischen Harmoniefolge), ohne vorerst das Stück zu kennen. Dies kann einerseits zu interessanten eigenen Erfindungen führen, andererseits wird durch die improvisatorische Vorbereitung das Stück anschließend leichter erlernt und besser verstanden.
Die ersten Kapitel des recht umfangreichen Lehrwerks dienen dazu, anhand von bekannten Liedmelodien in den wichtigsten Kadenzfunktionen heimisch zu werden. Ausgangspunkt dabei ist die V‑I-Kadenz. Die Modelle sollen von Anfang an transponiert werden. Die darauf folgenden Kapitel sind nicht progressiv, sondern nach stilistischen Merkmalen geordnet, sodass man je nach Interesse auswählen kann. Lernpsychologisch vorbildlich führt der Weg in jeder Lernsequenz vom Hören zum Verstehen. Von einzelnen musikalischen Elementen ausgehend, nähert sich der Schüler in sorgfältig aufeinander aufbauenden Schritten allmählich der Komplexität des Zielstücks an. Dabei lernt er auch wichtige Stimmführungsregeln der jeweiligen Stilistik kennen. Bewundernswert ist die pädagogische Fantasie, mit der Wiedemann immer neue, stets reizvolle Aufgabenstellungen entwirft.
Die Literaturbeispiele entstammen allen Epochen von der Barockzeit bis zur Moderne und schließen auch populäre Musikstile mit ein. Durch die Orientierung an harmonischen Modellen ergeben sich dabei interessante Begegnungen zwischen unterschiedlichen Musikstilen wie z. B. im Kapitel zur Quintfallsequenz, das Stücke von Händel, Schumann, Piazzolla und Ignatzek/Wiedemann enthält.
Die Improvisationsmodelle können im Unterricht ohne Noten, nur durch Zeigen und Erklären, Vor- und Nachspielen vermittelt werden. Ein weitgehend eigenständiges Lernen anhand der Notenbeispiele und Kommentare des Autors ist jedoch ebenso gut möglich. Dadurch ist die sehr empfehlenswerte Sammlung vielseitig im Unterricht und auch fürs Selbststudium einsetzbar.
Sigrid Naumann