Mandyczewski, Eusebius

Kleine Kadenzen, Kanons und Präludien

für Pianoforte, hg. von Dietmar Friesenegger

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2020
erschienen in: üben & musizieren 2/2021 , Seite 62

Eusebius Mandyczewski (1857-1929) wurde im bukowinischen Czernowitz (heute Chernivtsi, Uk­raine) als Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters geboren. Nach der Gymnasialzeit in seiner Heimatstadt zog er 1875 nach Wien, wo er Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft studierte. Zu seinen Lehrern zählte u. a. Eduard Hanslick. Privat nahm er ­Unterricht in Musiktheorie und Komposition bei dem Beethoven-Forscher Gustav Nottebohm, einem Schüler von Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann. Mit Johannes Brahms, der ihm zu einem Stipendium verholfen hatte, verband ihn eine langjährige Freundschaft. Viel Anerkennung erwarb er sich in späteren Jahren als Archivar und Editor. Er betreute die Sammlungen der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde und war Mitherausgeber der Gesamtausgaben der Werke von Schubert und Brahms. Seine Kompositionen, darunter Messen, Vokal-, Orchester- und Klavierwerke, sind heute weitgehend vergessen.
Die in der vorliegenden Ausgabe erstmals editierte Sammlung kleiner Kadenzen, Kanons und Präludien entdeckte Dietmar Friesenegger in der Handschriftensammlung der Universitäts­bibliothek von Chernivtsi. Mandyczewski schrieb die Stücke 1916 für seine damals zwölfjährige Tochter Virginia zur Bereicherung ihres Klavierunterrichts. Es handelt sich um insgesamt 36 Miniaturen in sämtlichen Ton­arten des Quintenzirkels und in sechs Kirchentonarten sowie zwei Präludien durch alle Ton­arten, das erste davon allein für die linke Hand. Mit Ausnahme der etwas umfangreicheren Präludien ist keines der Stücke länger als 16 Takte. Der Begriff „Kadenzen“ meint kein improvisatorisch auszuführendes Passagenwerk, sondern die Beschränkung auf harmonische Hauptfunktionen in der jeweiligen Tonart.
Jedes Stück hat einen prägnanten Ausdruck und bietet ein fassliches Modell des Charakters, der der jeweiligen Tonart im Lauf der Musikgeschichte zugewachsen ist. Charakter- bzw. Vortragsbezeichnungen wie „Ruhig“, „Getragen“, „Gesangvoll“, „Zierlich“, „Freundlich“ etc. verdeut­lichen den Habitus jeder Nummer. Manche Wendungen muten seltsam an, ebenso einige Takteinteilungen, durch die der abschließende Grundakkord nicht auf dem Taktschwerpunkt erreicht wird. Reizvoll sind die diversen, oft polyfon angereicherte Satztechniken.
Im Rahmen bescheidener spieltechnischer Anforderungen bieten die Stücke ein reiches Potenzial zur Entwicklung eines plastischen Spiels. Auch zu Transpositionsübungen sowie als Modelle zur Improvisation und zur Komposition lassen sie sich verwenden. Der Herausgeber hat die Sammlung vorzüglich ediert. Neben dem Notentext enthält die Ausgabe ein Foto der Familie Mandyczewski, Reproduktionen mehrerer Seiten des Manuskripts, ein informatives Vorwort, einen Kritischen Bericht sowie die Umschrift des Widmungsgedichts, mit dem Mandyczewski die Stücke seiner Tochter widmete.
Ulrich Mahlert