© Olad Aden

Josties, Elke

Klimaprotest, Straßenoper, Rap gegen rechts

Community Music, soziale Bewegungen und Empowerment

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2022 , Seite 10

Wie kam es dazu, dass ein Community-Singing-Projekt in Belgien die Vorlage für einen be­kannten Klimaschutzsong lieferte? Lässt sich das Drama der Gentrifizierung als Straßenoper inszenieren? Kann Musik Jugendliche, die Rassismus, Diskrimi­nierung und soziale Aus­schlüsse erfahren, inspirieren und empowern?

Community Music ist von Beginn an verbunden mit sozialen Bewegungen, vor allem seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Dies hat Lee Higgins am Beispiel eines Überblicks zur Geschichte der Community Music in den USA und in England verdeutlicht.1 Alicia de Bánffy-Hall und Burkhard Hill verweisen auf die spezifische und wechselhafte Entwicklung des gemeinschaft­lichen Musizierens in Deutschland seit der Jugendbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts.2 Sie begreifen Community Music in Deutschland als „intermediäres Feld zwischen verschiedenen Arbeitsfeldern, Berufen und wissenschaftlichen Disziplinen, z. B. der Musikpädagogik […], der Sozialen Arbeit, der Musiktherapie, der Volksmusik usw.“3
Community Music habe „das Potential, Akteur*innen und Projekte, die bisher separiert, aber mit den Werten der Community Music arbeiteten, zu verbinden und das Feld hierdurch insgesamt zu stärken“.4 Auffallend sei, dass einerseits „in der Praxis der Community Music […] Parallelen und Übereinstimmungen mit der Sozialen Arbeit sichtbar“ seien, andererseits jedoch selbstorganisierte Initiativen bevorzugt werden, stehen sie doch in der Tradition „bürgerschaftliche[n] oder freiwillige[n] ­Engagement[s]“.5 Besonders im Kontext der Selbstorganisation komme das Empowerment ins Spiel, zu dem es laut Alicia de Bánffy-Hall und Burkhard Hill bezogen auf Community Music „konzeptuelle Übereinstimmungen“6 gebe.

Empowerment

Empowerment lässt sich laut Norbert Herriger übersetzen mit Begriffen wie „,Selbstbemächtigung‘, ‚Selbstbefähigung‘, ‚Stärkung von Autonomie und Eigenmacht‘“.7 Die „Philosophie und Praxis des Empowerments“ ist in ihrer Entstehung eng verbunden mit der Bürgerrechtsbewegung (dem civil rights movement) gegen die „rassistisch-segregative Politik und Alltagspraxis“8 in den USA. Empowerment drückte sich aus in der politischen und kollektiven Selbstorganisation im Kampf um „die aktive Aneignung von Bastionen der Macht“.9 Des Weiteren waren die feministische Bewegung sowie die Selbsthilfe-Bewegung der 1970er und 1980er Jahre in den USA „Motor des Empowerment-Diskurses“.10 Hinzu kamen die Ent­wicklung von Community-Action-Programmen und die Reformbewegung der Gemeindepsychologie. Von wesentlicher Bedeutung für die Weiterentwicklung der Empowerment-Praxis waren zudem die Arbeiten und Schriften Paulo Freires, der in Brasilien seit den 1960er/70er Jahren im Rahmen seiner Alphabetisierungskampagne ein neues, kritisches Selbstverständnis einer „Pädagogik der Bemündigung“11 entwickelte. Herriger resümiert: „Selbstbemächtigung und Eigenverfügung über die Baupläne des eigenen Lebens – so lautet die Botschaft der sozialen Bewegungen.“12 Freire war inspirierend für die Entwicklung von Konzepten der Community Music. So sehen sich KünstlerInnen, die sich als Community Artists verstehen, in ihrer Rolle als „conscious facilitators for people to express themselves though artistic means. This cultural and political ambition oscillated around the emergence of empowerment through participa­tion and strongly resonated with Paulo Freire’s […] approach to libratory education.“13
Soziale Arbeit tritt in Deutschland „häufig als Träger von Community Music-Aktivitäten in Erscheinung […], zum Beispiel im Rahmen sozialer Kulturarbeit und in der Jugendhilfe“.14 Das Empowerment-Konzept spielt in diesen Kontexten ebenfalls stets eine besondere Rolle. Higgins sieht in der Community Music weitreichende, empowernde und transformative Potenziale: „community music has the potential to provide empowering and transformative experiences and, as such, can be a powerful medium for social and political change.“15

Do it now!

Musik, Protest und Empowerment in Klimaschutzbewegungen
„Do it now!“: Für den Aufruf von Fridays for Future in Deutschland zum Klimastreik am 25. März 2022 wurde der Songtext Do it now! ins Netz gestellt: „We need to wake up […] and do it now, now, now.“ Bei diesem Song handelt es sich um eine englischsprachige Neutextierung des Liedes Bella ciao, das so zu einem Lied der Klimaschutzbewegung wurde.16 Die Adaption entstand im Rahmen der belgischen Aktion „Sing for the Climate“. Diese Aktion des Community Singing war der Höhepunkt der dreijährigen Klimaschutz-Kampagne „The big ask“ in Belgien und wurde 2012 von „Friends of the Earth East Flanders“ und weiteren Gruppen der belgischen „Klimaat Coalitie“ organisiert, maßgeblich initiiert von Nic Balthazar, einem belgischen Fernsehjournalisten, Autor und Filmregisseur. Zusammen mit dem belgischen Singer-Songwriter und Indie-Rockstar Stef Kamil Carlens schrieb er die englischsprachigen Lyrics zur Melodie von Bella ciao.
Zusammen mit mehr als 50 flämischen MusikerInnen und SängerInnen wurde eine Ver­sion für die Kampagne „Sing for the Climate“ entwickelt und aufgenommen, deren populärmusikalisch gehaltenes Arrangement zum Sing-Along in Gruppen, zum Mitsingen und Mittanzen einlädt. Die InitiatorInnen wollten mit diesem groß angelegten Community-Singing-Projekt zum einen öffentliches Bewusstsein für die Klimakrise wecken und zum anderen, anlässlich des bevorstehenden Klimagipfels 2012 in Dohar/Katar, eine öffentlichkeitswirksame Kampagne für eine bessere Klimagesetzgebung in Belgien starten.
Am Wochenende des 22. und 23. September 2012 beteiligten sich über 80000 Menschen in mehr als 180 belgischen Städten und Ortschaften an der Aktion. Vor Ort organisierten Volunteers ihre jeweils spezifische Form des singing protest march, alle sangen zum gleichen Musikarrangement zusammen mit lokalen KünstlerInnen, MusikerInnen und DirigentInnen sowie eigenen Kamerateams und posteten ihren Clip im Internet. In einem nächsten Schritt wurden 725 Schulen in Belgien mit 300000 jungen Leuten an der Aktion „Sing@school“ beteiligt. So kam es – sicher auch Dank der medialen Präsenz des Hauptinitiators Nic Balthazar – zu einer sehr hohen Beteiligung von insgesamt mehr als 380000 Mitwirkenden. Künstlerisches Resultat ist ein Musikvideo, in dem der Song Do it now! als Zusammenschnitt von Aufnahmen von allen lokalen Aktionen der Singkam­pagne präsentiert wird.17

1 Higgins, Lee: Community Music: in theory and in practice, Oxford 2012.
2 de Bánffy-Hall, Alicia/Hill, Burkhard: „Community ­Music“, in: Hartogh, Theo/Wickel, Hans Hermann (Hg.): Handbuch Musik in der ­Sozialen Arbeit. Neuausgabe, Weinheim 2019, S. 98-111, hier: S. 105-107.
3 ebd., S. 109 f.
4 ebd., S. 109.
5 ebd., S. 109 f.
6 ebd., S. 110.
7 Herriger, Norbert: „Empowerment – Potenziale nutzen“, in: socialnet (Hg.): Empowerment.de – Potenziale nutzen, S. 1, www.empowerment.de (Stand: 27.6.2022).
8 Herriger, Norbert: „Spurensuche: Eine kurze Geschichte des Empowerment-Konzeptes“, in: ders.: ­Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung, Stuttgart 2020, S. 24.
9 ebd., S. 26.
10 ebd.
11 ebd., S. 36.
12 ebd.
13 Higgins, Lee: Community Music, S. 32.
14 de Bánffy-Hall, Alicia/Hill, Burkhard: „Community ­Music“, S. 99 f.
15 Higgins, Lee: Community Music, S. 168.
16 In diesem Abschnitt folgen leicht bearbeitete Auszüge aus: Josties, Elke: „Bella ciao – Transformationen eines Protestliedes. Fallstudie zur Entstehungsgeschichte, transnationalen Verbreitung und jugend- und popkulturellen Rezeption“, Alice Salomon Hochschule, Berlin 2022, https://opus4.kobv.de/opus4-ash/frontdoor/index/index/searchtype/latest/docId/487/start/0/rows/10 (Stand: 20.7.2022).
17 11.11.11 – Koepel van Internationale Solidariteit: Sing for the Climate Belgium – Final clip (29.11.2012), https://youtu.be/XGgBtHoIO4g, 3210 Abonnenten, 822723 Aufrufe (Stand: 20.7.2022).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2022.