Magyar, Eszter
Knopf im Ohr
Hört man nur, was man weiß? Weiß man nur, was man hört? Hörvermittlung mit dem OHRPHON[@]Orchester
Der Begriff „Musikvermittlung“ ist bekannt. „Hörvermittlung“ nicht so sehr. Dabei bezeichnet dieser Begriff einen wesentlichen Aspekt der Musikvermittlung: Musik braucht Zuhörer, im wahrsten Sinne des Wortes – und bewusstes Hinhören mit „denkenden Ohren“ (Daniel Barenboim) kann tatsächlich gelernt werden.
In unserer schnelllebigen Welt ist es ein seltenes Phänomen geworden, still zu sein und wirklich zuzuhören. Der Klassikbereich ist nicht der einzige, der dadurch vor Herausforderungen gestellt wird. Man steckt sich Kopfhörer in beide Ohren und lässt Musik nebenbei laufen: beim Lernen, beim Joggen, beim Kochen, bei der Arbeit. Konzentriertes Musikhören, egal ob im Konzertsaal oder im Jazzclub, ist aus dieser Sicht eine extreme Situation.
Die Musik den ZuhörerInnen zu erklären, das hat eine langjährige Tradition und findet in vielen Formen statt. Programmhefte, Konzerteinführungen, Gesprächskonzerte, moderierte Konzerte, Konzertnachgespräche: All diese Angebote haben das gemeinsame Ziel, dem Publikum ein Basiswissen zu vermitteln, um das Bevorstehende oder Gehörte zu entschlüsseln und eine Grundlage für das Verstehen des musikalischen Stoffs zu bilden. Der Nikolaisaal Potsdam hat als modernes Konzerthaus die Intention, Hören zu vermitteln, neue Wege zu finden, ergänzend zu den bestehenden, traditionelleren Angeboten, um unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen und möglichst alle Altersgruppen mit seinen Vermittlungsangeboten abzudecken, sodass jeder einen Anschluss zu klassischer Musik finden kann. Von Baby- und Kleinkinderkonzerten über Workshops und Probenbesuche für Schulklassen bis hin zur Reihe FREISTIL mit neuartigen Hörsituationen für Erwachsene können Besucherinnen und Besucher Musik neu für sich entdecken oder ihre Kenntnisse und Leidenschaft weiter vertiefen.
OHRPHON[@]Orchester: Probenbesuch mit Knopf im Ohr
So holte der Nikolaisaal Potsdam die Orchesterproben aus dem stillen Kämmerlein heraus, um den Entstehungsprozess eines Konzerts für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen und Musik aus einer ganz anderen Perspektive, nämlich als Arbeit zu zeigen. Für den Lerneffekt mit Unterhaltungsfaktor muss es mehr geben als 30 Minuten Musik mit Unterbrechungen: Dieses Extra nennt sich Live-Moderation per Audioguide. In Museen oder bei Städtereisen sind Audioguides seit langer Zeit ein bewährtes Medium – warum sollten sie nicht auch in Konzertsälen eingesetzt werden? Sie ermöglichen es nämlich, den Besuch von Proben und Konzerten live zu kommentieren, ohne die Arbeit der MusikerInnen bzw. das akustische Hörerlebnis für andere HörerInnen zu beeinträchtigen.
Unterstützt durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg verfügt der Nikolaisaal über 300 OHRPHON-Geräte. Sie bestehen aus einem einseitigen Kopfhörer sowie einem Empfänger, über den unter anderem live eingesprochene Zusatzinformationen und Kommentare übermittelt werden können, wobei umgebende Geräusche und Klänge mit dem freien Ohr wahrgenommen werden. Nach einer 30-minütigen Einführung im Foyer setzen sich SchülerInnen der Klassenstufen 3 bis 12, ausgestattet mit OHRPHON-Geräten, in den Saal; oben in der Technikloge nehmen die beiden Moderatoren Platz, wie in einer Dolmetscherkabine. Dank der Mehrkanaltechnik kann jeder selbst zwischen der Moderation für Musikanfänger oder der für Fortgeschrittene entscheiden und sein Gerät entsprechend einstellen. So wird jedem zielgruppengerecht ein Blick hinter die Kulissen als Hörerlebnis gewährt.
Die Moderatoren erzählen nicht nur den Inhalt des Programms, sondern erklären den Gebrauch der Instrumente, das Einsetzen der Musikerinnen und Musiker sowie die Vorgehensweise des Dirigenten und der Solisten. Auch der Dirigent kann live dazugeschaltet werden, um die Probenarbeit noch unmittelbarer verfolgen zu können. Die direkte Ansprache jedes einzelnen Hörers über das OHRPHON macht es möglich, die Konzentration der Zuhörer auf das, was im Konzertsaal zu hören und zu sehen ist, zu fokussieren und die Aufmerksamkeit gezielt zu lenken. Ein tieferes Musikverstehen wird nicht nur für Menschen mit, sondern vor allem für Menschen ohne musikalische Vorbildung im Kontext des Live-Erlebnisses möglich.
Nachdem sich das Format im Nikolaisaal Potsdam inzwischen fest etabliert hat, reisen die OHRPHON-Geräte dank der großzügigen Förderung durch die Ostdeutsche Sparkassenstiftung seit der Saison 2017/18 durchs Land Brandenburg und besuchen Partnerensembles an ihren Spielstätten. SchülerInnen, Familien und Erwachsene bekommen die Gelegenheit, in ihrer Region einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und die Probenarbeit hautnah mitzuerleben. Und den Brandenburger Orchestern wird dadurch ermöglicht, auch außerhalb der Ballungsgebiete Musikvermittlung anzubieten.
Doch der Audioguide OHRPHON kommt nicht nur bei Probenbesuchen zum Einsatz. Bei ausgewählten Konzerten können BesucherInnen, die mehr wissen möchten als das, was im Programmheft steht, sich ein OHRPHON nehmen und einen Musikkritiker, der ebenfalls im Publikum sitzt, live bei seiner Arbeit erleben. Der Kritiker arbeitet als „kleiner Mann im Ohr“: Vor dem Konzert empfängt er die BesucherInnen und weist darauf hin, worauf sie beim Musikhören besonders achten sollen, er stellt das Orchester oder den Künstler vor und erzählt etwas über die Werke. In der Konzertpause sowie nach dem Schlussapplaus zieht er Bilanz und verfasst für die Anwesenden eine Sofort-Kritik.
Zuhörförderung von Klein auf: der HÖRCLUB
Musik existiert aber auch außerhalb der Konzertsäle und Zuhörförderung darf sich nicht nur auf Sinfoniekonzerte beschränken. In einer Zeit, in der musikalische Bildung abnimmt, ist es besonders wichtig, Kinder schon in ganz jungem Alter an Musik heranzuführen und ihnen zu zeigen, wie viel Freude das eigene Musizieren machen kann – von den längst erwiesenen positiven Bildungseffekten ganz zu schweigen. Der Nikolaisaal Potsdam hat die Vision, sein eigenes Publikum zu bilden, zu binden und zu begleiten, schon ab einem frühen Alter – und auch die Eltern dazu anzuregen, zu Hause mit ihren Kindern (noch mehr) Musik zu machen und den Spaß daran gemeinsam zu entdecken.
Für diese Altersgruppe gibt es im Nikolaisaal Potsdam verschiedene Angebote von Kleinkinderkonzerten bis hin zu Mitsingnachmittagen. Besonders dabei ist der HÖRCLUB mini, an dem fünf Kindergartengruppen wie an einem Patenprogramm teilnehmen können. Aufgrund des großen Interesses müssen diese ausgelost werden. Sechsmal in der Saison besucht eine Musikpädagogin die „Hörmäuse“ in ihren Kindergärten, um mit ihnen gemeinsam zu musizieren. Im Mittelpunkt stehen Klänge und Geräusche aus dem Alltag der Kinder: aus der Stadt, aus der Küche und aus dem Wald. Aus diesen werden musikalische Elemente – und so wird z. B. ein Küchenorchester aufgestellt, das die gesungenen Lieder auf Töpfen, Raspeln und mit Schneebesen rhythmisch begleitet. Die Klanggeschichten und Hörrätsel fördern die auditive Wahrnehmung und die Konzentration der Kinder: Sie lernen, Klänge, Geräusche, Melodien und Rhythmen bewusst zu hören, zu erkennen, voneinander zu unterscheiden und sie selbst zu produzieren. Außerdem werden durch das eigenständige Singen bzw. Rappen das Takt- und Rhythmusgefühl gefördert.
Wesentlich für Kinder in diesem Alter ist Regelmäßigkeit, nicht nur bezüglich der monatlichen Kita-Sessions, sondern auch musikalisch. Jedes Mal wiederkehrende Elemente sind unter anderem ein Begrüßungslied und der Hörmäuse-Rap, ein Song über den HÖRCLUB mini. Diese musikalischen Bausteine werden in eine Rahmengeschichte eingebettet, die ebenfalls von einem für die Kinder vertrauten Thema handelt, z. B. von Wut, wenn die kleine Schwester den letzten Keks isst. So setzen sich die Kinder mit der eigenen Wut aus einer externen Perspektive auseinander und können sogar abstimmen, wie sie musikalisch klingt.
Krönender Abschluss sind die Sitzkissenkonzerte, die im Nikolaisaal stattfinden, einmal für Kindergartengruppen, einmal für Familien. Hier öffnen die Hörmäuse ihre Klangschatztruhe und zeigen den ZuhörerInnen, was sie bei den sechs Kita-Sessions gelernt haben. Bei den Sitzkissenkonzerten und schon bei der letzten Kita-Session ist immer ein zusätzlicher Musiker, ein Multi-Instrumentalist dabei, der die Klanggeschichten durch sein vielfältiges Instrumentarium noch bunter und greifbarer macht.
Jugendliche ab 16 können im HÖRCLUB kreativ mitmachen und Musik aus einer anderen Perspektive entdecken als im Schul- oder Instrumentalunterricht oder im Jugendsinfonieorchester. In Kooperation mit dem Jugendclub HOT des Hans Otto Theaters entwickeln die TeilnehmerInnen eine Live-Bühnenmusik zu einem Theaterstück, ausgehend von einem klassischen Werk. Im Rahmen eines Kompositionsworkshops unter Anleitung von Profimusikern setzen sie sich mit dem Inhalt des Theaterstücks auseinander, sammeln musikalische Ideen, probieren sie aus, und so entsteht ein musikalisches Material, das in regem Austausch mit dem Jugendclub HOT in wöchentlichen Proben zur finalen Bühnenmusik weiterentwickelt und bei den Theatervorstellungen live von den TeilnehmerInnen gespielt wird.
Eine wichtige Besonderheit des Projekts ist, dass es sich nicht nur an Jugendliche mit musikalischen Vorkenntnissen richtet, sondern jeder, der immer schon einmal ein Instrument oder Komponieren ausprobieren wollte, sich beteiligen kann. Dabei entsteht ein spannender Austausch zwischen den klassisch geprägten, mit klassischer Musik aufgewachsenen Jugendlichen und den TeilnehmerInnen, die sich eher in der Popmusik zu Hause fühlen.
Der HÖRCLUB kreativ ist projektbezogen, läuft also lediglich über die Monate zwischen dem Workshopwochenende und den Aufführungen. Da es ein komplett außerschulisches Angebot ist und zudem die Proben oft abends oder an Wochenenden stattfinden, fordert es von den TeilnehmerInnen ein hohes Maß an Verbindlichkeit und Verantwortungsbewusstsein. Und es ist schön zu sehen, wie sich die jungen MusikerInnen gegenseitig motivieren. Sehr bereichernd ist außerdem der Austausch mit dem Jugendclub HOT während der Zusammenführungs- und Endproben: Nun wird über Inhalte und Umsetzung diskutiert, gemeinsame Lösungen oder Kompromisse müssen gefunden werden. Bei der guten Gruppendynamik und der positiven Arbeitsatmosphäre können alle etwas voneinander lernen. Als Teil der kreativen Prozesse probieren die Jugendlichen entweder neue Instrumente aus oder neue Spieltechniken am eigenen Instrument, was einige auch dazu bewegt, sich in eine neue Stilrichtung weiterzuentwickeln.
Hörvermittlung durch alle Lebensalter
Die Tendenz, dass das Publikum der Baby-, Kinder- und Jugendangebote des Nikolaisaals Potsdam ineinander übergeht, ist bereits nach wenigen Jahren zu beobachten. Vielleicht gibt es in einigen Jahren eine „Nikolaisaal-Generation“, deren Mitglieder von den Babykonzerten über HÖRCLUB mini bis hin zu OHRPHON-Probenbesuchen und HÖRCLUB kreativ überall dabei waren und später im Großen Saal bei den Sinfoniekonzerten sitzen werden oder sich für Kammermusik begeistern. Und was noch wichtiger ist: zu Hause mit ihren eigenen Kindern singen, musizieren und ihnen die Liebe zur Musik und verstehendes Musikhören selbst weitergeben. Das wäre die schönste Bestätigung und Anerkennung unserer Arbeit.