Komponistinnen kennenlernen

Mittelschwere Klavierstücke, hg. von Isolde Weiermüller-Backes

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Certosa Verlag, Körborn 2024
erschienen in: üben & musizieren 6/2024 , Seite 58

Es gibt sie, die Komponistin! Das ist die zentrale Aussage von Herausgeberin Isolde Weiermüller-Backes. In diesem Band hat sie 20 Stücke von Komponistinnen unterschiedlicher Epochen zusammengestellt, einige aus dem 18. Jahrhundert, die Mehrzahl aus dem 19. und 20., einzelne auch zeitgenössisch, in der Regel dem Publikum eher unbekannt: Wer hat wohl schon von Vítezslava Kaprálová gehört, von Valborg Aulin, Franzisca Gonzaga, Fanya de Stella-Palikruschewa, Leopoldine Blahetka, Natalie Janotha oder Clara Kathleen Rogers?
Sichtlich handelt es sich nicht nur um europäische Autorinnen, sondern auch um Komponistinnen z. B. aus Brasilien, Mexiko und den USA. Doch auch die europäische Fraktion erfreut durch große Vielfalt – von Schweden und Deutschland bis Polen oder Italien. Kurze Biografien nach jedem Stück machen die Spielenden mit der jeweiligen Komponistin bekannt.
Ähnlich vielfältig sind die Formen der Stücke: vom 14-taktigen herbstlichen Stimmungsbild über fröhlichen Tanz, Caprice, Mazurka, Walzer, Scherzo bis zum Lied ohne Worte oder einer vierstimmigen Fuge. Harmonisch reicht die Palette vom klassischen Stil bis zu hochdissonanten zeitgenössischen Klängen.
Der technische Anspruch der Kompositionen ist unterschiedlich, aber verlangt durchgängig einige Jahre Tastenerfahrung. Insbesondere rhythmisch sind manche der Stücke wirklich anspruchsvoll; andere bleiben wiederum rhythmisch sehr durchsichtig, fordern aber eine gewisse Fingerfertigkeit, und auch große Griffe (über die Oktave hinaus) kommen vor und könnten kleine Hände überfordern. Beiden Tonarten ist eine große Bandbreite geboten bis zu fünf Vorzeichen. Und auch was didaktische Zielsetzungen betrifft, bietet der Band Übematerial für so unterschiedliche Anliegen wie Geläufigkeit, drei gegen zwei, Legato- und Staccato-Spiel, Akkordbrechungen und große Sprünge rechts oder links, Polyfonie in einer Hand – der Spieler oder die Spielerin darf sich von den tiefsten Tiefen der Tastatur bis in abgelegene Höhen bewegen.
Nicht alle Stücke werden zu Lieblingsstücken werden, nicht alle wird man nach Jahren nochmals hervorholen wollen. Dennoch finden sich unter den Werken dieser Komponistinnen so einige Perlen, bei denen man mit Recht fragen mag, warum sie so lange in Vergessenheit geraten sind? Hinsichtlich Repertoire­erweiterung mag die Anschaffung dieser Sammlung durchaus lohnen.
Die Ausgabe erfreut durch klaren Druck, die Spiralbindung erleichtert das Blättern. Ein Nachteil ist allerdings das sehr dünne Papier: Da scheinen die Noten von der Rückseite durch, und allzu oft sollte man besser nicht radieren. Auch der Einband besteht aus nur geringfügig dickerem Kartonpapier. Dafür scheint der hohe Preis nur gerechtfertigt, wenn man den Band vor allem aus ideellen Gründen ersteht…
Andrea Braun