Schwarz, Silke
Kontrolle haben, um fliegen zu können
Sprezzatura – Souveränität und Leichtigkeit auf der Bühne
Ein wesentliches Merkmal für musikalisches Können ist Sprezzatura, die Souveränität und Leichtigkeit beim Musizieren. Doch wie erreichen Musizierende unterschiedlicher Alters- und Entwicklungsstufen diesen Zustand auf der Bühne?
Giulio Caccini (1551-1618) war einer der bedeutendsten Sänger und Gesangslehrer in Florenz. In seiner Sammlung Le nuove musiche von 1602 veröffentlichte er Madrigale und Arien, die in Dur-Moll-Harmonik, mit Generalbassbegleitung und zahlreichen rhetorischen und lautmalerischen Motiven komponiert waren. Diese Monodien gelten neben den Werken von Jacopo Peri und Claudio Monteverdi als erste Beispiele des affekthaften, leidenschaftlichen Sologesangs und bildeten die Grundlage zur Entstehung der Oper. Im Vorwort formuliert Caccini sein Interpretationsideal dieser neuen Musik. Die Arien sollten gefühlsbetont und ausdrucksstark („cantar con affetto“) sowie mit einer gewissen vornehmen Lässigkeit des Singens („una certa nobile sprezzatura di canto“) vorgetragen werden.1 Diese Art des Vortrags begeisterte das Publikum und in kürzester Zeit eroberte das italienische Virtuosentum die musikalische Welt.
Sprezzatura, also die Souveränität im musikalischen Vortrag, ist bis heute ein zentrales Kriterium von Virtuosentum und Exzellenz. Synonym wird diese Kompetenz auch als Mühelosigkeit, Selbstverständlichkeit, Grazilität oder Leichtigkeit beschrieben, wie die folgenden Rezensionen verdeutlichen:
„Hier spielt Milstein beide Violinkonzerte mit der unergründlichen Leichtigkeit eines Virtuosen, der sich in den technisch anspruchsvollen Passagen nicht austobt, sondern souverän dem Hörer einen Blick auf die Musik erlaubt.“2
„[Yvonne Loriod] kultivierte eine ureigene Klangsprache, die sich besonders durch ihre beeindruckende Grazilität auszeichnet. […] Die ebenso formstrengen wie wilden Impressionen, die Boulez in seine berüchtigte Sonate eingebaut hatte, barg sie mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit.“3
Sprezzatura erwächst demnach aus einer Beherrschung der musikalischen Passagen, die vom Publikum als peak performance wahrgenommen wird. Damit sind Leistungen gemeint, die „kreativer, produktiver, effizienter oder auf andere Weise besser sind als ‚gewöhnliche‘ Leistungen“.4
Anders als im Flow, bei dem die Musizierenden eine Harmonie zwischen Gefühl, Gedanken und Handlungen erleben, ist dies bei der Sprezzatura nicht zwangsläufig der Fall. So können unvorhergesehene Schwierigkeiten unangenehme Affekte bei den Musizierenden auslösen. Deren Bewältigung führt wiederum zur Erfahrung von Gelingen und souveräner Handlungsfähigkeit.
Sprezzatura, also die Souveränität im musikalischen Vortrag, ist bis heute ein zentrales Kriterium von Virtuosentum und Exzellenz.
Sprezzatura fußt also zum einen auf der automatisierten Beherrschung der Anforderungen. Zum anderen ist die Leichtigkeit der Sprezzatura oftmals Resultat einer Erleichterung. Diese Erleichterung stellt sich ein, wenn ein Wagnis, also eine schwierige Passage, ein außergewöhnliches Tempo oder eine unverfügbare Situation auf der Bühne gemeistert wird. Sie kann aber auch durch das Loslassen mentaler oder körperlicher Spannungen erreicht werden.
Automatisierung und Bewusstsein
Sprezzatura auf der Bühne gelingt nur, wenn die erforderlichen motorischen Abläufe des Musizierens weitgehend automatisiert ablaufen. Die Automatisierung ist jedoch mit Chancen und Risiken verbunden. Im besten Fall werden schwierige Bewegungsabläufe durch das wiederholte Üben beherrscht, sodass an Stelle bloßer Technik die künstlerische Gestaltung fokussiert werden kann. Im ungünstigsten Fall führen dauerndes Wiederholen oder gar Einschleifprozesse zu geistlosem Herunterleiern, bei dem sich negative Bewegungsmuster wie Verspannungen oder Haltungsschäden konsolidieren können.
Das Spannungsfeld zwischen Bewusstsein und Automatisierung beschäftigt die Musikpädagogik seit Langem. Die legendäre Gesangspädagogin Franziska Martienßen-Lohmann fragte bereits 1923: „Was darf und soll nun aber ‚bewußt‘ sein beim Singen?“ Beantwortet hat sie jedoch zuerst die gegenteilige Frage, nämlich: „Was darf nicht bewusst sein beim Singen? […] Keinesfalls darf durch dazwischengeschobene Begriffe das notwendig Automatische der Funktionen gestört werden.“5 Sie präzisierte dies in praktischen Beispielen und postulierte, dass eine automatisch funktionierende Atmung die Grundlage des Schwelltons sei. „Solange die Atmung überhaupt noch Bewußtheit und Aufmerksamkeit erfordert, kann der Schwellton nicht in das [sic] Bereich der Übung einbezogen werden.“6
Dieses Vorgehen antizipiert grundlegende Erkenntnisse der heutigen Koordinationsschulung, in der die Automatisierung nicht das Ziel, sondern der Ausgangspunkt der Entwicklung ist. Vor allem bei Kindern bedeutet Koordinationsschulung „nicht das Erlernen von komplexen bisher nicht beherrschten Bewegungsfolgen, sondern die Stabilisierung und Variation von einfachen Bewegungen“.7 Beherrschte Fertigkeiten wie Hüpfen, Laufen oder Balancieren werden dann durch sogenannte Druckbedingungen weiterentwickelt und in komplexes Bewegungshandeln überführt (siehe Tabelle „Druckbedingungen“ auf der nächsten Seite).8 Wird eine Bewegung nicht beherrscht, werden die entsprechenden Druckbedingungen vereinfacht, bis die Fertigkeit automatisiert abläuft. Dabei gelten die Leitsätze gelingenden Unterrichts, nämlich das Prinzip der Neuartigkeit, der Vielseitigkeit und der Freudbetontheit.9
1 Caccini, Giulio: Le Nuove Musiche, Florenz 1602, Vorwort Ai Lettori.
2 Stephan Bultmann in: Preis der deutschen Schallplattenkritik: Ausgezeichnet! Die Preise und Bestenlisten 2019, Berlin 2019, S. 55, www.schallplattenkritik.de/ media/pdsk-ausgezeichnet-2019.pdf (Stand: 21.4.2022).
3 Klassikakzente: „Begnadete Pianistin und Muse Messiaens – Hochwertige Edition von Yvonne Loriod“, Berlin 2019, www.klassikakzente.de/diverse-kuenstler/news-und-rezensionen/begnadete-pianistin-und-muse-messiaens-hochwertige-edition-von-yvonne-loriod-253871 (Stand: 21.4.2022).
4 Abfalter, Dagmar: Das Unmessbare messen? Die Konstruktion von Erfolg im Musiktheater, Wiesbaden 2010, S. 193.
5 Martienßen, Franziska: Das bewußte Singen. Grundlagen des Gesangsstudiums, Frankfurt 31951, S. 17.
6 ebd., S. 91.
7 Schwarz, Silke: Musikalische Bewegungsspiele. Koordinationsschulung in der Primarstufe, Schorndorf 2018, S. 14.
8 nach Kröger, Christian/Roth, Klaus: Koordinationsschulung im Kindes- und Jugendalter, Schorndorf 22021, S. 17.
9 ebd., S. 17 und 21.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2022.