Heß, Carmen

Konzeptionelle ­Spannungsfelder des Klassenmusizierens mit Blasinstrumenten

Eine Analyse divergenter Prä­missen und Zielvorstellungen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Waxmann, Münster 2017
erschienen in: üben & musizieren 5/2017 , Seite 54

Viele Musikerinnen und Musiker schließen ihr Studium inzwischen auch mit einer wissenschaftlichen Qualifikation ab. Die Emanzipa­tion der Musikpädagogik als eigenes Fach hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass PädagogInnen hier nun auch ohne Umweg zum Beispiel über die Musikwissenschaft direkt wissenschaftlich arbeiten und promovieren können. Dies ist derzeit vor allem in der Schulmusik der Fall, InstrumentalpädagogInnen scheinen diese Möglichkeit derzeit noch weniger zu nutzen.
Die hier vorgestellten Arbeiten zu Bläserklassen sind ebenfalls schulmusikalisch geprägt, obwohl beide AutorInnen selbst Blä­ser sind und zusätzlich über einen instrumentalpädagogischen Studienabschluss verfügen. Besonders deutlich wird die schulpädagogische Perspektive in den einleitenden Kapiteln beider Arbeiten, in denen das jeweilige Thema in den Kontext verschiedener wissenschaftlicher Diskurse und Forschungsergebnisse an­derer WissenschaftlerInnen eingeordnet wird.
Es geht um die Frage, ob Bläserklassenunterricht allgemeinbildend sein kann oder welche Legi­timationen für diese Unterrichtsform in der Schule existieren. Wie gut die  instrumentale Ausbil­dung in Bläserklassen sein kann oder soll, spielt (wohl auch wegen der fehlenden wissenschaftlichen Vorarbeiten) nur am Rande eine Rolle.
Carmen Heß untersucht die verfügbaren Texte zu verschiedenen Bläserklassenansätzen mit einem „textkritisch-analytischen Ansatz“. Dabei nimmt sie so Unterschiedliches in den Blick wie die YAMAHA-Bläserklasse (dazu unten mehr), das Buch Neue Mu­sik im Musikunterricht mit Blasinstrumenten von Thade Buchborn (Detmold 2011), einen nicht publizierten Ansatz der Rheinischen Musikschule in Köln und weitere. Sie entwickelt ein Analysemodell mit den fünf Zentralkategorien „Musiklernen“, „Lernen“, „Bildung“, „,Guter‘ Musikunterricht“ und „(Essentielle) Umgangsweisen mit Musik“. Innerhalb dieser Dimensionen ­untersucht Heß die textlichen Grundlagen der verschiedenen Bläserklassenansätze höchst dif­ferenziert. Dabei geht es ihr weniger um eine Untersuchung der konkreten Ansätze, sondern um die Entwicklung eines systema­tischen Analysemodells der didaktischen Prämissen von Bläserklassen, die sie am Ende der Arbeit auch in drei Prototypen konkretisiert.
Michael Göllner nutzt einen qualitativen Forschungsansatz, indem er SchülerInnen, Musikschullehrkräfte und Schulmusiker von drei konkreten Bläserklassen zu ihren jeweiligen Sichtweisen auf den Unterricht befragt. Die entstandenen Leit­fadeninterviews transkribiert und analysiert er, um am Ende den Bläserklassenunterricht als ein „Vexierbild“ zu charakterisieren. Derselbe Unterricht kann danach von den verschiedenen Beteiligten abhängig von ihrem Standpunkt höchst unterschiedlich wahrgenommen werden.
Göllners Arbeit orientiert sich an der Forschungsmethodik der Grounded Theory. Sein prozesshafter Ansatz, zu dem auch ein Forschungstagebuch gehört, macht den Text auch für Nichtwissenschaftler gut lesbar. Die vielen kontrastierenden wörtlichen Zitate, die denselben Bläserklassenunterricht aus der Perspektive unterschiedlicher Be­teiligter darstellen, sind hoch­interessant.
Innerhalb der Arbeit widmet sich Göllner auch dem Konzept der Communities of Practice (CoP), das als „musikalische Praxisgemeinschaft“ auch in der deutsch­sprachigen Instrumentalpädagogik aktuell diskutiert wird. Dieser Abschnitt ist lesenswert, weil er neben den Vorteilen dieser Sichtweise auf Bläserklassen­unterricht auch die „blinden Flecken der theoretischen ‚Linse‘ der CoP“ thematisiert.
Kritisch anzumerken bleibt, dass  in beiden Arbeiten die Marketingstrategie des Instrumentenherstellers YAMAHA verfangen hat. Dieser hat die deutsche Übersetzung des amerikanischen Lehrwerks Essential Elements angestoßen und finanziert, weswegen das Firmenlogo nun gut sichtbar auf den Titelseiten der Unterrichtsmaterialien zu sehen ist. Dabei wäre insbesondere im Ansatz von Carmen Heß eine Untersuchung des amerikanischen Originals gut möglich gewesen, schließlich sind zahlreiche Quellen wie Lehrpläne, didaktische Texte und Erlebnisberichte aus den USA online verfügbar.
Auch Michael Göllner widmet sich in seiner Einordnung der Forschungslandschaft zum Musikklassenunterricht nicht den US-amerikanischen Band Classes („Class“ muss hier mit „Unterricht“ übersetzt werden, es ist dort in der Regel ein Wahlfach und keine Schulklasse). Dabei richtet sich eine seiner beforschten Klassen explizit an der Theorie des Amerikaners Edwin E. Gordon aus; das in dieser Klasse verwendete Unterrichtswerk Jump Right In kann durchaus als ­Gegenentwurf zur traditionellen Methodik in amerikanischen School Bands gesehen werden.
Jörg Sommerfeld