Schneider, Urs Peter

Konzeptuelle Musik

Eine kommentierte Anthologie

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: aart verlag, Bern 2016
erschienen in: üben & musizieren 5/2018 , Seite 52

„Jeder Ausführende spielt einen langen Ton nach dem andern, wobei die Dauern und Tonhöhen frei und unabhängig sind. Jeder Ton beginnt so zart als möglich, schwillt dann bis zu seinem Maximum an und verschwindet wieder in einer (individuellen) Stille. Während die Lautstärke eines Tones wechselt, möglichst wenig Tonhöhenveränderung.“
Welch wunderschönes Konzeptstück für drei oder mehr Instrumente von James Tenney, welche Fülle von Klängen und Klangfarben, die sich begegnen und berühren, ablösen, ineinander über­gehen, entfernen, wie im Leben, messa di voce experimentell, Seele der Musikgeschichte und erfüllter Musizierzeit. Und dies ist nur ein Beispiel aus der beglückenden Auswahl von 400 gut realisierbaren Konzeptstücken, die der große Schweizer Komponist und Interpret, Improvisator und Pädagoge Urs Peter Schneider seit Jahrzehnten gesammelt (weit über 1000 insgesamt), mit seinen Ensembles erprobt, (ur-) aufgeführt, erforscht und hier endlich veröffentlicht hat.
So klar Urs Peter Schneiders kommentierte Anthologie gegliedert ist, so vielfältig, farbig, bunt und unerschöpflich ist die Sammlung von fantasievollen bis verrückten Einfällen und Entwürfen, Spielmodellen und Ak­tionsanweisungen, „hie und da Noten, Grafiken, Plänen“, die nicht selten, wie bei Fluxus, weit über das Musikalische im engeren Sinne hinaus in die Performance-Kunst reichen. Auf einen kurzen theoretischen Teil mit originellen Definitionen zur Konzeptuellen Musik („Musikalische Konzepte … sind in hohem Maße potentiell; sie entwerfen mit Vorliebe eher Mögliches, als dass sie Resultate vorschreiben, sie im­pulsieren eher einen Weg denn ein Ziel“), einem konzisen historischen Abriss sowie Erläuterungen zur Erschließung der Konzepte folgen, alphabetisch nach KomponistInnen geordnet, die meist eine Seite umfassenden Konzepte mit Angabe von Entstehungszeit, Besetzung, Dauer, Widmung. Sie decken das gesam­te Spekt­rum ab, das diese entgrenzende und befreiende Kunstform hervorgebracht hat: von Vorläufern wie Satie, Duchamp, Cage über die Hoch-Zeit der „Event Scores“ und Entwürfe der 1960er und folgenden Jahre bis weit ins 21. Jahrhundert, mit Klassikern des Genres ebenso wie völlig unbekannten, teils vom Verfasser angeregten Kreationen.
Verbrieft und vertieft werden die Konzepte sodann auf zweifache Weise: durch ein Signaturen­verzeichnis mit fokussierenden Schlüsselbegriffen zu Form, Inhalt, Erscheinung etc. sowie einen ausführlichen Kommentarteil mit aufschlussreichen Hintergrundinformationen, Zitaten und Hinweisen zur Erarbeitung und Aufführung, gespeist aus der langjährigen Erfahrung des Autors als Ensembleleiter und Improvisator. Im Anhang finden sich u. a. ein Literaturverzeichnis, eine Zitatensammlung und vor allem eine umfangreiche Liste von nicht ausgewählten und kommentierten Konzepten, die zum Weiterforschen oder gar zu einem Folgeband einlädt.
Wolfgang Rüdiger