Projekt "Wachstumspunkt" an der Musikschule Jurmala

Gorshkova, Natalia

Konzerte als Wachstumspunkt

Leistungszuwachs im Ensemblespiel an der Musikschule Jurmala (Lettland)

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 3/2025 , Online-Beitrag 21

Das Ensemblespiel ist eine besondere Art der musikalischen Praxis. Mehrere Menschen müssen ein einziger Organismus sein, der gemeinsam atmet, denkt und handelt. Um dieses Niveau des Zusammenspiels zu erreichen, ist es hilfreich, SchülerInnen ein mehrstufiges Aufführungssystem anzubieten, bei dem sie ihr Programm in verschiedenen Sälen, vor unterschiedlichem Publikum und mit Blick auf das Klavierspiel auch auf einem ungewohnten Instrument spielen.
Häufig ist die Aufführung eines Stücks bei einem Konzert oder einer Prüfung der Endpunkt der pädagogischen Arbeit. Das verschenkt jedoch Potenzial im Sinne von Wachstumsmöglichkeiten. Im Konzert braucht man Reaktionsschnelligkeit und ein Handlungsrepertoire mit Blick auf Unerwartetes. Das gilt erst recht im Ensemble, denn hier braucht es ein besonderes Gespür dafür, das Denken und Handeln von EnsemblepartnerInnen innerhalb der besonderen Situation eines Konzerts zu antizipieren, eine Art „Einpassen“ in den anderen. Jede Aufführung des Ensembles muss daher kritisch reflektiert werden – als Wachstumspunkt für das weitere kreative Leben.
Um das zu ermöglichen, lasse ich meine SchülerInnen-Ensembles mindestens drei Mal an unterschiedlichen Veranstaltungsorten auftreten. Dazu ein Beispiel eines Ensembles mit SchülerInnen der 6. Klasse der Musikschule Jurmala (Lettland). Mein Ziel war eine hervorragende Leistung beim Abschlusskonzert des Schuljahres, das von wichtigen Gästen aus Familie, Musikschule und Politik besucht wird. Mit Hilfe der verlinkten Videos kann man sich vom Leistungszuwachs überzeugen.
1. Der erste Auftritt des Ensembles erfolgte im Kontext der Schulabschlussprüfung im Bereich Ensemblefähigkeiten. Der Vorsitzende des Prüfungsausschusses, der unsere kreativen Pläne für die Zukunft kannte, gab wichtige Ratschläge als Wachstumspunkte zur weiteren Verbesserung der Ensemble-Interaktion zwischen den Studierenden.
2. Um uns im Rahmen der akademischen Anforderungen weiterzuentwickeln, haben wir das III. Internationale Musik- und Kunstfestival in der Stadt Valmiera als zweite Plattform ausgewählt. Das Ensemble musste zur Musikdarbietung ein selbst erstelltes Bild mitbringen. Mit einem Gemälde entführten die SchülerInnen in einen fröhlichen brasilianischen Urlaub. Die OrganisatorInnen des Wettbewerbs würdigten das Können des Ensembles und verliehen den SchülerInnen Ehrendiplome, die die Motivation der SchülerInnen stärkten.
3. Als dritten Ort wählten wir einen Kindergarten (Kindergarten „Die Schwalbe“). Orte wie Grundschulen, Kindergärten, Bibliotheken oder soziale Einrichtung (Pflegeheim, Blindeninternat, Krankenhaus) können gut genutzt werden. Es fühlt sich zunächst einfacher an vor einem solchen Publikum. Aber genau darin liegt auch die Schwierigkeit. Diese ZuschauerInnen sind in der Lage, das Ensemble entweder wirklich und aufrichtig mit Bewunderung zu würdigen oder bei Nichtgefallen deutlich gelangweilt zu reagieren.

4. Es folge noch ein vierter Auftritt im Rahmen des jährlichen Klaviermarathons der Musikschule. Traditionell dürfen an diesem Marathon nur diejenigen teilnehmen, die bei der Prüfung mindestens 8 von 10 Punkten erreicht haben (Konzertmarathon der Klavierschüler.

5. Der fünfte Auftritt war dann der Zielpunkt, unser Abschlusskonzert (Abschlusskonzert des Schuljahres). Die SchülerInnen fühlten sich dort sehr sicher. Sie hatten fünf Monate Training hinter sich, haben bei früheren Auftritten enorme Erfahrungen gesammelt und fanden zunehmend ein organischeres Tempo, den richtigen Charakter und die richtige innere Einstellung.

Durch die Umsetzung einer solchen mehrstufigen Aufgabe mit Reflexion der Wachstumspunkte lassen sich bei den SchülerInnen in besonderer Weise Fähigkeiten kreativen, künstlerischen Musizierens entwickeln. Das Projekt „Wachstumspunkt“ ermöglicht es SchülerInnen, die Komfortzone des Musikschulsaals zu verlassen, in fremden Sälen aufzutreten und sozusagen in den Alltag echter KünstlerInnen einzutauchen, ihr Konzertkostüm anzuprobieren und sich anzupassen für unterschiedliche Zuhörergruppen.

Vierhändige Familienensembles

Ein vierhändiges Klavierensemble wird häufig durch den Zusammenschluss von gleichaltrigen SchülerInnen, von SchülerInnen mit ähnlichem spieltechnisch-musikalischen Niveau oder als Ensemble bestehend aus SchülerIn und LehrerIn gebildet. Dies begründet sich aus einer meist auch weitgehend altershomogenen Zusammensetzung von Unterrichtsgruppen und/oder aufgrund der spieltechnisch-musikalischen Fähigkeiten, die ein Ensemblestück erfordert. Ensembles mit großem Altersunterschied oder Ensembles mit besonders leistungsheterogenen SpielerInnen sind daher selten, haben aber großes Potenzial.
Seit 2020 veranstaltet die Musikschule Jurmala (Lettland) jährlich ein Konzert mit dem Titel „Unsere in der Schule, unsere in der Musik“, für das Ensembles aus SchülerInnen mit deren Verwandten und zugleich ehemaligen SchülerInnen der Musikschule (Eltern, Cousins, Tanten, Onkel, Großeltern) gebildet werden (= Unsere). Auf diese Weise ist der Altersunterschied in den Ensembles zum Teil erheblich. Und während die einen gerade die Grundlagen lernen, sind die anderen fortgeschrittene MusikerInnen, die viele Jahre eine Ausbildung in der Musikschule erhalten haben.
Die Ensembles bereiten über den Zeitraum von drei Monaten unter der Anleitung der Lehrkraft der SchülerInnen, die zurzeit Unterricht an der Musikschule erhalten, einen Konzertbeitrag für ein „Familienkonzert“ vor. Herausfordernd für die Lehrperson ist vor allem die Programmauswahl. Die ausgewählten Stücke sollten musikalisch ansprechend und einprägsam, gleichzeitig aber für beide EnsemblespielerInnen spieltechnisch machbar sein. Dabei eignen sich häufig Stücke, in denen ein Part komplexer ist, während ein anderer Part z. B. aus einer einfachen Melodie besteht. Für ein vierhändiges Ensemble bestehend aus gleichaltrigen Cousins (5. und 6. Klasse) habe ich beispielswiese den Tanz „Trepak“ aus Pjotr ​​Tschaikowskis Ballett „Der Nussknacker“ gewählt. Kriterien waren die Bekanntheit des Stücks sowie die Verfügbarkeit eines guten und kurzen Arrangements mit durchschnittlichem technischem Schwierigkeitsgrad.

Die Vorbereitungszeit des Konzerts ist der besonders gewinnbringende Teil der Familienkonzerte. Sie ist gewissermaßen ein Kreativlabor für EnsemblespielerInnen wie LehrerInnen und leistet einen Beitrag zum gemeinsamen und generationenübergreifenden Lernen. LehrerInnen müssen sich auf neue Ensembles einstellen und sich der Herausforderung des Ensembleunterrichts mit alters- wie leistungsheterogenen Gruppen stellen. Ihre pädagogische Professionalität ist hier gefragt. Die SpielerInnen, die sich gegebenenfalls aus familiären Kontexten kennen, lernen sich im Ensemblespiel neu kennen, können aber bereits auf eine vertraute Beziehung aufbauen. Dabei lernen Fortgeschrittene von AnfängerInnen wie auch AnfängerInnen von Fortgeschrittenen. Sie unterstützen sich gegenseitig und die erfahrenen SpielerInnen geben dem Ensemble Sicherheit. Fortgeschrittene üben sich teils im Unterrichten und weniger Fortgeschrittene sind stolz, Teil eines Ensembles zu sein mit einem Konzertbeitrag, den sie in einer alters- und leistungshomogenen Gruppe nicht hätten leisten können. Zudem können die Ensembles durch eine familiäre Beziehung die Möglichkeit nutzen, häufiger zu proben. Und wenn diese Symbiose dann mit einem wundervollen Konzertauftritt endet, kennt die Freude der Beteiligten meist keine Grenzen.

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