Schultheiß, Axel

Kreative Wege

Die Akustikgitarre neu ­entdecken, mit CD

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Acoustic Music/FingerPrint, Osnabrück 2012
erschienen in: üben & musizieren 4/2012 , Seite 58

Keine Kompositionslehre und keine Schule der Fingerstyle-Gitarre, sondern ein Aufzeigen des klanglichen Potenzials der Gitarre ist das Ziel von Schultheiß’ Kreative Wege. Aufgeteilt ist das fast 100-seitige Heft in acht Kapitel: Rhythmus und Groove, Akkorde, Komposition und Improvisation, Ausdruck und Interpretation, Sound, Klangaufgaben, Stil sowie Fingerzeige. Hier beschreiben Jacques Stotzem, Peter Finger, Claus Boesser-Ferrari und Ralf Illenberger ihre Vorgehensweise, für Gitarre zu schreiben.
Schultheiß beginnt mit einem leichten Stück im Picking-Stil mit Wechselbässen und durchbricht dann das Zupfmuster erst durch Pausen, dann durch Tonrepetitionen. Letztere führt er im nächsten Stück fort und ergänzt Basstöne durch Aufklopfen der linken Hand. Aber schon bei der dritten Nummer im schnell gespielten 5/4-Takt wird so mancher Gitarrist Schwierigkeiten haben, überhaupt den Notentext umzusetzen. Bei dem folgenden Stück sind 4/4 (im Bass) gegen 7/4 (Zweiklänge und Dreiklangsbrechungen auf den hohen Saiten) gesetzt.
„On The Move“ handelt vom Einsatz perkussiver Klänge. Aber nach mehreren guten Vorübungen weist das komplette Stück einen so hohen Schwierigkeitsgrad auf, dass der Hinweis des Autors, das notierte Solo kann und sollte beliebig erweitert werden, „der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt“, einen nur denken lässt: der Fantasie vielleicht nicht, aber den verbleibenden Ressourcen der Spieltechnik schon.
So pendelt Schultheiß zwischen didaktisch sinnvollen Ansätzen und einem reinen Präsentieren seiner Spielkunst. Auch in den ergänzenden Texten geht er manchmal präzise auf die Entwicklung neuer klanglicher Möglichkeiten ein und gibt Beispiele zum Einsatz von Delays (eine elektronische Soundmanipula­tion, um Töne zeitlich verzögert zu wiederholen), verliert sich aber manchmal auch in Allgemeinplätzen.
Viele der Stücke sind mit ihrem ausgedehnten Lagenspiel und komplexen Akkorden schwer zu spielen. Wer auf diesem Level mithalten kann, wird manches, was er in diesem Heft findet, vermutlich schon kennen. Wer noch nicht so weit ist, wird sich einen didaktischeren Aufbau wünschen mit leichter spielbarer Literatur, die einem erst den Freiraum gibt, den Notentext kreativ zu verändern und mit den Ideen von Schultheiß zu experimentieren. Aber wer auf der Gitarre schon weit fortgeschritten und auch in der Harmonielehre fit ist, wer schon Erfahrungen mit Improvisationen gesammelt hat, wird dieses Heft als Materialsammlung immer wieder mit Gewinn nutzen.
Auch wenn die Zuordnung von Notenheft und CD-Tracks verwirrend und stellenweise fehlerhaft ist, lassen sich die auskomponierten Stücke hörend auch ohne Notenheft genießen, z. B. „Spiral Dance“, bei dem drei unterschiedliche Delays verwendet wurden, um die Wirkung von Minimal Music zu erreichen.
Jörg Jewanski