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Harding, Helge / Wendelin Bitzan

Künstlerische Exzellenz

Elementare Notwendigkeit oder elitärer Fetisch?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2018 , Seite 06

Dieser Artikel lenkt den Blick nach innen, auf das Selbstverständnis der Orga­nisationen und Verbände des Musiklebens und das, worüber sie sich definieren: ­künstlerische Exzellenz. Ist dieser Anspruch angesichts des tiefgreifenden gesellschaft­lichen Wandels unverändert aufrechtzu­erhalten? Ist die klassische Musik­branche überhaupt professionell genug aufgestellt, um den massiven Herausforderungen dieses Wandels und dem damit verbundenen Reformstau effektiv begegnen zu können? Der vorliegende Artikel möchte Ideen und Impulse für eine offene, lebhafte und möglichst ­konstruktive Debatte vorstellen.

Bei Gesprächen mit Menschen, die nicht mit „klassischer Musik“ sozialisiert sind, prallen schnell Welten aufeinander. Je weiter die Positionen und individuellen Lebensentwürfe auseinander liegen, desto herausfordernder sind die Debatten. Die sehr speziellen Anliegen und Bedürfnisse von MusikerInnen werden häufig als elitär wahrgenommen oder dargestellt. Vielfach werden künstlerische Ansprüche relativiert oder sogar entwertet mit dem Verweis auf die „normale“ Bevölkerung, die ganz andere Bedürfnisse habe, als sich mit der „elitären“ klassischen Musikkultur zu beschäftigen. Ein ums andere Mal wird deutlich, dass diese Musik schon lange nicht mehr in der Mitte der Gesellschaft steht.
Daraus resultiert ein zunehmender Legitimationsdruck, der in die Frage mündet: Warum ist das, was wir tun, überhaupt gesellschaftlich relevant? Um diese entscheidende Frage beantworten zu können, müssen wir uns zur Bedeutung künstlerischer Exzellenz positionieren. Gelingt es uns einerseits, deren zent­rale Rolle für unser Tun plausibel zu machen? Und können wir andererseits dort, wo es sinnvoll erscheint, diesen Anspruch großzügig relativieren? Anknüpfend an diese Fragen möchte dieser Artikel Impulse geben, wie die Musikausbildung und die Arbeitsbedingungen von MusikpädagogInnen zeitgemäßer gestaltet und vitalisiert werden könnten.*

Kriterien entwickeln

Ohne klare Orientierung an einem künstle­rischen Ideal ist musikalische und musikpädagogische Tätigkeit kaum vorstellbar. Eine möglichst differenzierte musikalische Vorstellung ist die Grundlage für eine stilistisch angemessene, intellektuell und emotional ansprechende Interpretation eines musika­lischen Werks. Dies gilt selbstverständlich genauso für das Schaffen neuer Komposi­tionen. Eine möglichst umfassende Beherrschung der handwerklichen Mittel, also der Musizier- oder Kompositionstechnik, ist dabei Mittel zum Zweck – ohne diese kann sich selbst die hervorragendste Begabung nicht vollständig entfalten.

Mit „Objektivierbarkeit“ ist also ausdrücklich keine ­Normierung im Sinne einer Standar­disierung musika­lischer Leistungen gemeint, sondern ein lebendiger und dynamischer ­Katalog nachvollziehbarer Kriterien.

Die Orientierung an künstlerischer Exzellenz ist in diesen Bereichen selbstverständlich, ohne dass verbindlich fixiert wäre, was eigentlich künstlerisch erstrebenswert ist, welche Vorbilder nachahmenswert sind und welche Aspekte einer musikalischen Leistung wie und warum bewertet werden sollten. Allenfalls gelten Vorgaben innerhalb bestimmter Institutionen oder Veranstaltungen, etwa bei Wettbewerben oder Probespielen. Aber selbst dort sind Bewertungskriterien für musikalische Leistungen in der Regel nicht schriftlich fixiert, sondern bilden eher eine Art stillschweigende Übereinkunft, die im Hintergrund wirkt.
Ein bewusster Umgang mit solchen Kriterien, der eine Vergleichbarkeit zwischen regional unterschiedlichen Leit­linien oder „Schulen“ möglich machen würde, ist nicht gegeben. Beispielsweise werden bei „Jugend musiziert“ oder bei Zugangs- und Abschlussprüfungen an Musikhochschulen Punkte oder Noten größtenteils intuitiv und ohne objek­tivierbare Bewertungsmaß­stäbe vergeben. Dabei bleibt der untere Bereich der Skala praktisch immer unausgenutzt, was die Aussagekraft positiver Beurteilungen mindestens einschränkt, eigentlich aber entwertet. Eine bewusst wohlwollende Haltung, die an sich wünschenswert ist, produziert so praktisch das Gegenteil des Gewollten.
Selbstverständlich ist die Beurteilung von Kunst letztlich immer subjektiv. Das, was oft als „Geheimnis“ oder „Zauber“ beschrieben wird und eine Aufführung selbst unter Wettbewerbsbedingungen zu einem besonderen Erlebnis werden lassen kann, obwohl die hand­werkliche Ausführung oder der stilis­tische Ansatz womöglich diskussionswürdig wären, macht ihren besonderen Reiz aus. Gerade weil ein zentraler Aspekt von Musikausübung also nicht mit Worten zu greifen ist, erscheint es sinnvoll, möglichst viele Bewertungskriterien zu objektivieren – zumindest diejenigen, über die ein Konsens erzielt werden kann. Konkrete Bezugspunkte zu formulieren würde uns helfen, Bewertungsmaß­stäbe für musikalische Leistungen zu entwickeln, die intern und extern kommunizierbar wären. Vergleichbare Situationen würden so auch tatsächlich vergleichbar gemacht.
Darüber hinaus könnte es uns mit solch einem Werkzeug gelingen, größere Transparenz herzustellen – auch gegenüber Menschen, die sich für Musik interessieren, ohne bisher aktiv mit ihr in Berührung gekommen zu sein, oder die anderen gesellschaftlichen oder ethnischen Umfeldern entstammen. Mit „Objektivierbarkeit“ ist also ausdrücklich keine Normierung im Sinne einer Standar­disierung musikalischer Leistungen gemeint, sondern ein lebendiger und dynamischer ­Katalog nachvollziehbarer Kriterien, der als Grundlage für die individuelle Wahrnehmung und Beurteilung des Gehörten dienen kann. Dass ein solches System in Deutschland bisher nicht existiert, empfinden wir als Mangel.

Bewertungssystem ­einführen

Einen guten Eindruck davon, wie solche Kriterienkataloge aussehen können, geben die Stufenprüfungssysteme des englischen Associated Board of the Royal Schools of Music (ABRSM) und des Trinity College London. Die Richtlinien, anhand derer bewertet wird, sind für alle Beteiligen jederzeit einsehbar, werden in regelmäßigen Abständen evaluiert, aktualisiert und fortlaufend weiterentwickelt. Die Kosten für die dafür notwendige professionelle Infrastruktur werden unter anderem über Prüfungsentgelte gedeckt. Auch in anderen europäischen Nachbarländern werden institutionalisierte Bewertungssysteme für Musik vollkommen selbstverständlich und mit großem Erfolg genutzt. Ein prominentes historisches Beispiel ist die Lehrmethodik der Musikinstitutionen der Sowjetunion (die „rus­sische Schule“), die auf dem französischen Conservatoire-System aufbaute und in den 1920er Jahren auf effektive und künstlerisch differenzierte Weise kanonisiert wurde. Dieses System war wiederum Vorbild für die Musik­schulen und Musikhochschulen der DDR.
Obwohl die zunehmend instrumentalisierte DDR-Kulturpolitik vor allem auf Spitzenförderung abzielte, bildete eine solide Breitenförderung den Maßstab und die Basis, auf der eine Begabtenauslese überhaupt realisierbar war. Die staatlichen Planungen schlossen Fragen zur beruflichen Zukunft der ausübenden Musiker genauso ein wie die Versorgung breiter Schichten der Bevölkerung mit klas­sischer Musik. Für den Nachwuchs standen frühzeitig vergleichsweise gut bezahlte Stellen zur Verfügung und Konzerte oder Konzertreihen wie „Die Stunde der Musik“ boten auch im ländlichen Raum attraktive Konditionen nicht nur für die Ausübenden, sondern auch für die Hörer, da der Eintritt kostengünstig oder sogar kostenlos war.
So fragwürdig ein solcher Zentralismus aus heutiger Sicht auch erscheinen mag und so ablehnend wir dem Prinzip „Kaderschmiede“ gegenüberstehen: Es ist zu bedauern, dass weder die eindeutige Exzellenzorientierung noch die breite Anbindung an die Bevölkerung nach der deutschen Wiedervereinigung erhalten worden ist. Anstatt die Vorteile des Systems der DDR mit denen der westdeutschen Musikausbildung zu kombinieren, wur­­de ersteres gnadenlos abgewickelt. Damit wur­de die Chance vertan, die hohen fachlichen Standards eines weitgehend staatlich organisierten Ausbildungssystems in ­eine freiheit­liche demokratische Ordnung zu über­­neh­men. Umso wichtiger erscheint es heute, diese und andere Traditionen aufzu­arbeiten, um auf deren Grundlage ein neues Prüfungs- und Bewertungssystem zu entwickeln, das den mas­siv veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Musikausübung am Anfang des 21. Jahrhunderts Rechnung trägt.
Durch eine bessere berufsständische Organisation könnten derartige und andere Fragen gebündelt werden. So würde nicht nur musikpädagogische Arbeit inhaltlich und methodisch gestärkt, sondern auch die Position der klassischen Musik im Allgemeinen. Beispielsweise wäre der Stellenwert regelmäßigen und effektiven Übens nachvollziehbarer und bedürfte keiner weiteren Rechtfertigung. Falsche, aber sehr populäre Dichotomien wie Spaß und Leistung oder Breite und Elite ließen sich differenzieren, wenn nicht gar auf­lösen. Wir würden uns selbst Richtlinien schaffen, die deutlich machen, welch ein Privileg es ist, eine fundierte Musikausbildung zu erhalten, und was musikalisch ausgebildete Menschen mit ihren Qualifikationen für die Gesellschaft leisten können. Für Schülerinnen und Schüler wäre deutlicher ersichtlich, welche Anforderungen und welche Möglichkeiten das Erlernen eines Instruments bietet und ab welchem Leistungsstand eine Musikerkarriere realistisch in Betracht gezogen werden kann. Es könnten zwischen verschiedenen Bundesländern und Städten vergleichbare Standards für Lehrinhalte entwickelt werden; Curricula und Prüfungen könnten inhaltlich einerseits an den individuellen Zielen der Lernenden, andererseits an den Anforderungen der jeweiligen Berufspraxis ausgerichtet werden. Auch bei Wettbewerben und bei Prüfungen an Hochschulen würde auf diese Weise zugleich höhere Transparenz und Flexibilität ermöglicht.

Pädagogik aufwerten

So sinnvoll eine Exzellenzorientierung in den genannten Bereichen ist, so notwendig ist eine Relativierung dieser Maßstäbe an anderer Stelle. Wenn es etwa um den Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen geht, stellt sich die Frage, inwiefern die Orientierung an künstlerischen Spitzenleistungen für angehende SchulmusikerInnen noch zeit­gemäß ist. Die Erfahrung zeigt, dass die „Künstler in der Schule“ häufig schon während des Studiums frustriert sind, weil ihnen schlicht die Zeit zum Üben fehlt. Die Schullaufbahn verlangt in weit höherem Maße als das Unterrichten an Musikschulen und Musikhochschulen eine Auseinandersetzung mit der außermusikalischen Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler; Vermittlerqualitäten und die Nutzung von Transfereffekten der Beschäftigung mit Musik spielen die entscheidende Rolle. Echte Begeisterung für ein breites Spektrum an kunstmusikalischen und populären Stilistiken, die gleichberechtigt koexistieren, erscheint hier wichtiger, als Werke aus dem klassischen Standardrepertoire auf hohem Niveau darbieten zu können – so eindrucksvoll es auch ist, wenn dies dennoch stattfindet.

Eine rein künstlerische ­Ausbildung sollte nur noch als hochspezialisiertes ­Masterstudium für Ausnahme­be­gabungen ­angeboten werden.

Auch angehende Instrumental- und GesangspädagogInnen werden oft an den Maßstäben künstlerischer Exzellenz gemessen – in der Regel mit deutlich weniger Nachsicht, als sie SchulmusikerInnen noch zugestanden wird. Dabei müssen auch sie sich eigentlich nicht nach den Standards einer Elitenausbildung richten, wie sie in den Hochschulen praktiziert wird. Dort ist im Übrigen eine bedenk­liche Entwicklung zu beobachten: Die Anforderungen im künstlerischen Bachelor- oder Masterstudium orientieren sich zunehmend an Konkurrenzsituationen bei Probespielen oder Wettbewerben und damit an einer Überbetonung von einseitig auf diese Situationen bezogenem technisch-handwerklichen Perfektionismus. Das eigenständige Erarbeiten und Darstellen von individuell durchdachten Interpretationen, also die Entwicklung zu einem autonomen Künstlertum, bleibt eher im Hintergrund, wenn sie überhaupt geduldet wird. Auch in diesem Bereich wären transparente Kriterien hilfreich, über die man sprechen kann und die in zwischen Lehrenden und Studierenden vereinbarte Zielsetzungen einfließen können.
Das Berufsbild des Instrumentalpädagogen benötigt kommunikationsstarke Persönlichkeiten mit hoher musikalischer Kompetenz, die die Lehrkräfte in die Lage versetzt, sich individuell auf Bedürfnisse der Lernenden einzustellen. Dies schließt auch die motivierende Anleitung von Schülergruppen verschiedener Größen ein. Methodische und fachdidaktische Qualifikationen sind dabei unabdingbar; sie sollten sich mit dem Streben nach spieltechnischer bzw. rein künstlerisch definierter Exzellenz die Waage halten. Dass InstrumentalpädagogInnen die unterrichteten Stücke instruktiv und suggestiv vorspielen können sollten, versteht sich von selbst – aber eine fähige Lehrperson muss nicht im internationalen Wettbewerb auf der Bühne bestehen können. Dieser oft verdeckte Anspruch führt bei Schülern, Eltern, Kollegenschaft und in der Öffentlichkeit zu falschen Einschätzungen („der hat es als Künstler eben nicht geschafft“) und Erwartungshaltungen („die Aufnahme von XY gefällt mir aber besser, als wenn mein Lehrer mir das vorspielt“). Um solche Vorurteile abzubauen, wäre eine offensive Betonung der Stärken und Schlüsselqualifikationen von InstrumentalpädagogInnen, verbunden mit realistischen Aufstiegsperspektiven und einer attraktiveren Entlohnung, sehr hilfreich.
Es bedarf also sowohl einer Exzellenzorientierung als auch deren Relativierung. Ohne Breite keine Spitze: Wir brauchen einerseits eine enttabuisierte Vorbildfunktion von Spitzenleistungen, andererseits deren plausible Mäßigung an geeigneter Stelle. Ohne diese Flexibilität verkommt künstlerische Exzellenz zu einer Art Fetisch, der einem offenen Diskurs eher im Wege steht.

Hochschulausbildung modernisieren

Die obigen Überlegungen, so sie umgesetzt würden, hätten natürlich auch Konsequenzen für die inhaltliche Ausgestaltung von Musikstudiengängen und letztlich auf das Studienplatzangebot. Das übermäßig auf das Hauptfach fokussierte Streben nach Perfektion, das an den meisten Musikhochschulen noch immer unter dem Etikett „Künstlerische Ausbildung“ angeboten wird, sollte stark reduziert werden zu Gunsten von mehr Studienplätzen für InstrumentalpädagogInnen und insbesondere für SchulmusikerInnen. Wenn wir den gesellschaftlich wie berufsständisch relevanten Bedarf an Lehrkräften für Musikschulen und allgemeinbildende Schulen nicht bald decken und weiterhin vernachlässigen, wird musikalische Bildung weiter erodieren. Wir sollten uns mehr als bisher an der gesellschaftlichen Realität orientieren und unsere Absolventen in die Lage versetzen, ­ihren Lebensunterhalt auf eine würdige und auskömmliche Weise bestreiten zu können. Dies ist in erster Linie die Aufgabe unserer Institutionen und ihrer Leitungen – vor allem deshalb, weil wir hohen Wert auf Selbstverwaltung legen –, und damit erst nachrangig diejenige der Politik.
Eine rein künstlerische Ausbildung sollte nur noch als hochspezialisiertes Masterstudium für Ausnahmebegabungen angeboten werden, denen entsprechend realistische Chancen auf dem Arbeitsmarkt eingeräumt werden. Dabei sollten sich diese Hauptfachstudiengänge an der Freiberuflichkeit als Standardsituation orientieren. Das bedeutet, dass die Anforderungen des Arbeitsmarkts viel stärker mit den individuellen Wünschen und Zielen der Studierenden in Einklang gebracht werden müssten, als es derzeit praktiziert wird. Bereits in Zugangsprüfungen sollte neben der künstlerischen Begabung auch ein realistisches Bewusstsein für Berufsbilder und deren Perspektiven erkennbar sein. Wo dies nicht der Fall ist, sollten die entsprechenden Sachverhalte mit Nachdruck vermittelt werden, um einer späteren Desillusionierung vorzubeugen. Außerdem sollte bereits in der Begabtenförderung die psychische und physische Belastbarkeit der Studierenden eingeschätzt und dauerhaft gestärkt werden, um den komplexen, mit dem Leistungssport vergleichbaren Anforderungen des Musikerberufs dauerhaft gerecht werden zu können.

Es sollte auf allen Ebenen eine faire, übersichtliche und unbürokratische ­Beurteilung von Lehrkräften stattfinden.

Für die an die Begabtenförderung anschließende Studienvorbereitung wären zusätzliche, den jeweiligen Personen individuell angepasste Maßnahmen vorstellbar, die bereits vor einem Musikstudium den Horizont erweitern und mögliche Zukunftsperspektiven abstecken. Neben den bereits bestehenden Kooperationen könnten weitere Projekte ini­tiiert werden, die einen intensivierten Austausch zum Ziel haben: etwa Musikschul-Praktika bzw. Hospitationen im Rahmen des Schulmusikunterrichts oder Gastkonzerte von Instrumentalklassen oder studienvorbereitenden Abteilungen in Schulen.
Weiterhin sollte das im Studium behandelte Musikrepertoire verbreitert werden und über den Kanon der „Standardwerke“ hinaus auch die Bereiche der Alten und Neuen Musik vollkommen selbstverständlich einschließen. Genauso wie die verbindlichen pädagogischen und fachdidaktischen Inhalte sollten außerdem Fähigkeiten und Handlungstechniken vermittelt werden, die für eine Freiberuflichkeit unentbehrlich sind: Marktübersicht (auch bezogen auf die Nachbardisziplinen der Musik), Steuerrecht, Urheberrecht, So­zialversicherungen, PR und Marketing, Einblicke in das Booking-, Agentur- und Veranstaltergeschäft etc. Mit diesem Rüstzeug wären AbsolventInnen wesentlich besser auf den sich stetig wandelnden Arbeitsmarkt vorbereitet, als es derzeit überwiegend der Fall ist. Von Hochschul- und Studiengangs­leitungen sollte ein Bewusstsein für diese Zusammenhänge erwartet werden können; dies schließt eine dynamische Personalführung ein, die innovative Ideen – auch von studentischer Seite – und die Entwicklung von Angeboten für ein zeitgemäßes und marktorientiertes Angebot von Bildungsdienstleistungen fördert.

Evaluation ermöglichen

Folgt man diesem Gedankengang weiter, so ist festzustellen, dass dem deutschen Musikausbildungssystem ein zuverlässiges und ­institutionalisiertes Qualitätsmanagement fehlt. Die bisher praktizierten Evaluierungssysteme haben nach unserem Eindruck nicht zu den seit Langem überfälligen Reformen beigetragen; einen Grund hierfür sehen wir in den unklaren Zielsetzungen und den nicht hinreichend auf die Anforderungen unserer Branche zugeschnittenen Beurteilungskriterien. Auch in diesem Bereich wäre also ein transparentes System hilfreich. Es sollte auf allen Ebenen eine faire, übersichtliche und unbürokratische Beurteilung von Lehrkräften stattfinden, die beispielsweise mit Hilfe von unabhängigen Unterrichtshospitationen und (Online-)Umfragen unter SchülerInnen und Studierenden möglich wäre.
Die Ergebnisse eines solchen moderaten Eva­luationssystems sollten in leistungsabhängige Vergütungen einfließen und ultimativ auch arbeitsrechtliche Konsequenzen zur Folge haben können. Weiterbildungen, etwa die Teilnahme an Lehrgängen oder der Erwerb von Zusatzqualifikationen, sollten finanziell und logistisch gefördert werden – und wie in anderen Berufen sollte eine erhöhte Qualifikation ein zentrales Argument für eine bessere Bezahlung sein. Durch Supervision kann darüber hinaus ein strukturierter und lebendiger fachlicher Austausch ermöglicht werden, der dabei hilft, objektivierbare Qualitätsstandards für die Lehre zu entwickeln. Solche Standards können dann als gemeinsame Orientierung dienen – jenseits von subjektiven Kriterien, die natürlich weiterhin eine wichtige Rolle spielen und den Fachdiskurs mitprägen. Bei alledem ist eine positiv definierte Anreizstruktur besonders wichtig, wäh­rend mögliche Sanktionen nur als letztes Mit­tel zur Steuerung eingesetzt werden sollten.

Über ein exzellenz- und ­ergebnisorientiertes Qualitäts­mana­gementsystem wären Entlohnungen grundsätzlich besser legitimierbar.

Durch solche oder ähnliche Maßnahmen wür­de die Attraktivität und Professionalität von Musikberufen deutlich gesteigert und die Leistungsmotivation eines Kollegiums oder eines Fachbereichs aktiviert. Über ein exzellenz- und ergebnisorientiertes Qualitätsmana­gementsystem wären Entlohnungen grundsätzlich besser legitimierbar, denn durch nachvollziehbar gute Bewertungsergebnisse lassen sich auch politische und administrative Führungen überzeugen. Eine solche Transparenz wäre auch für Menschen attraktiv, die nicht im oben erwähnten Sinne „klassisch-musikalisch“ sozialisiert sind und die sich so in eine öffentliche Debatte über die Qualität von Musikausbildung einbringen könnten.

Kooperation ­intensivieren

Viele der genannten Reformen sind natürlich nicht kurz- oder mittelfristig realisierbar, sondern erfordern eine langfristige Umstrukturierung. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass es nötig ist, bereits jetzt mit einem Umdenken zu beginnen. Nur wenn wir die Prinzipien und die inhaltliche Ausrichtung unserer Musikausbildung auf den Prüfstand stellen und gemeinsam zu fundierten und mehrheitsfähigen Positionen gelangen, können wir damit rechnen, der Erosion des künstle­rischen und musikalischen Lebens Einhalt gebieten und eine neue Basis für gesundes Wachstum schaffen zu können.
Damit Veränderungen politisch umgesetzt werden können, sind die bestehenden Organisationen und Institutionen zur Kooperation aufgerufen. Auf administrativer Ebene benötigen wir dringend eine Vereinfachung und Dynamisierung der zum Teil extrem bürokratischen Strukturen, in denen unsere Institutionen gefangen sind. Beispielsweise sollten öffentlich geförderte und private Musikschulen inhalts- und ergebnisorientiert zusammenarbeiten, nicht nur, um die gesellschaftliche Nachfrage besser bedienen zu können, sondern auch, um voneinander zu lernen und in Abstimmung miteinander zukunftsfähige Strategien zu entwickeln – in Bezug auf Fragen der Qualität der Ausbildung genauso wie bei der Diskussion von Vergütungshöhen oder der Aufgabenverteilung.
Eine besondere Anforderung wird zukünftig darin bestehen, „bildungsferne Bevölkerungs­schichten“ zu erreichen. Was muss dafür getan werden, welches Personal mit welchen Qualifikationen wird benötigt und wie können derartige Aufgaben für diejenigen, die damit betraut werden, attraktiv gestaltet werden? Und schließlich: Wie erreichen solche Bildungsangebote auch tatsächlich diejenigen Menschen, an die sie sich richten, und wie überprüfen wir dies?

Eine starke berufsständische Vertretung, etwa in Gestalt einer Kammer für Musik, könnte auch die oben ­thematisierten inhaltlichen Fragen koordinieren.

Diese und andere Fragen können wir beantworten, wenn es uns gelingt, unsere Kräfte zu bündeln und uns in der geschilderten Weise neu zu ordnen. Eine starke berufsständische Vertretung, etwa in Gestalt einer Kammer für Musik, könnte auch die oben thematisierten inhaltlichen Fragen koordinieren. Erst wenn wir unsere Leistungen verständlich und differenziert darstellen, werden wir deutlich machen können, worin ihr allgemeiner Nutzen besteht und auf welche Weise Menschen aller Bevölkerungsschichten von ihnen profitieren können. So können wir auch der eingangs thematisierten elitären Wahrnehmung begegnen. Wenn wir glaubhaft vermitteln können, dass musikalische Ausbildung gerade deshalb ein Allgemeingut und damit ein grundsätzliches Bildungsziel darstellt, weil sie tatsächlich jeder Person offen steht, unabhängig von (Vor-)Bildung oder finanziellen Verhältnissen, hätten wir viel gewonnen. Eine breite Akzeptanz aus der Mitte der Gesellschaft würde uns die politische Unterstützung sichern, die wir uns wünschen. Erst dann können wir hoffen, deutlich verbesserte Rahmenbedingungen durchzusetzen, die sowohl unseren Qualifikationen als auch deren gesellschaftlicher Relevanz entsprechen.

* Dieser Artikel stellt das künstlerisch-pädagogische Pendant zu unserem Beitrag „Raus aus der Opferrolle“ dar (Helge Harding/Wendelin Bitzan: „Raus aus der ­Opferrolle! Ein Appell an Musikerinnen und Musiker für berufsständisches Engagement“, in: musikschule )) DIREKT 6/2016, S. 2-4). Dort standen berufsständische Aspekte im Vordergrund. Es wurde außerdem erörtert, wie MusikerInnen und MusikpädagogInnen sich besser vernetzen können, um ihre berufliche Realität aktiver mitzugestalten und auch im politischen Raum selbstbewusst, aber zugleich sachlich und verständlich für ihre Anliegen werben zu können.</em>

Lesen Sie alle Beiträge in Ausgabe 1/2018.