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Busch, Thomas / Andreas Lehmann-Wermser

Kulturelle Teilhabe?

Das Programm „Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen“ (JeKits) auf dem Prüfstand

Rubrik: Forschung
erschienen in: üben & musizieren 4/2021 , Seite 48

Im Jahr 2019 wurde das Programm „Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen“ (JeKits) in Nordrhein-Westfalen erstmalig evaluiert. Die Ergebnisse bestätigen, dass JeKits von einem großen Teil der am Programm Beteiligten im Hinblick auf die Ermöglichung von ästhetischen Erfahrungen, auf kulturelle Teilhabe und die Entwicklung kommunaler Bildungslandschaften sehr wertgeschätzt und als wirksam angesehen wird. Dennoch zeigen sich auch einige Entwicklungspotenziale.

Als das Programm „Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen“ (JeKits) als Nachfolger von „Jedem Kind ein Instrument“ (JeKi) zum Schuljahr 2015/16 in Nordrhein-Westfalen ins Leben gerufen wurde, schrieben die Initiatoren die Erreichung dreier zentraler Ziele fest:
– Kindern „Instrumentalspiel, Tanzen oder Singen als ästhetisches Erleben und Handeln und als soziale Praxis [zu] ermöglichen“,1
– einer großen Anzahl an Kindern den Zugang zu musikalischer bzw. tänzerischer Bildung zu verschaffen und
– kommunale Bildungslandschaften durch die Kooperation von Schule und Bildungspartnern zu bereichern.
Als ein auf zwei Jahre angelegtes Programm zur musikalischen Bildung bietet JeKits seitdem ein Angebot zur musikalischen bzw. tän­zerischen Grundbildung, das von Tandems aus Lehrkräften von Schule und Bildungspartner gemeinsam im Rahmen des schulischen Unterrichts durchgeführt wird. Die Teilnahme im Klassenverband ist im ersten Jahr verpflichtend und kostenfrei. Schulen können sich dabei für einen der drei Schwerpunkte Instrumente, Tanzen oder Singen entscheiden.
Im zweiten, freiwilligen und kostenpflichtigen Jahr erhalten die teilnehmenden Kinder des Schwerpunkts Instrumente Instrumentalunterricht und nehmen am JeKits-Orchester teil. In den beiden anderen Schwerpunkten singen sie im Umfang von zwei Schulstunden im JeKits-Chor bzw. tanzen im JeKits-Tanzensemble – nun außerhalb der schulischen Stundentafel. Im Schuljahr 2020/21 erreichte JeKits in 188 Kommunen Nordrhein-Westfalens etwa 77000 Schülerinnen und Schüler in mehr als 1000 Grund- und Förderschulen.
Im Rahmen einer Zwischenevaluation des Programms wurde die Agentur edukatione im Jahr 2019 beauftragt, die drei zentralen Programmziele mit verschiedenen empirischen Methoden zu untersuchen und dabei möglichst viele verschiedene am Programm Beteiligte einzubeziehen. In einem komp­lexen Vorhaben wurden dafür Beteiligte schriftlich befragt, Akteure interviewt und Schulen besucht.

Ästhetische Erfahrungen und soziale Praxen

Das JeKits-Programm ist angetreten, ästhetisches Erleben und daraus folgendes soziales Handeln zu stärken. Daher kann man im Kern danach fragen, wie dieses Erleben, das sich ästhetisch jeweils auf Wahrnehmen, Erfahrungen und Urteilsfindung gründet, in den genannten drei Bereichen gefördert wird. Und wie strukturieren Lehrkräfte Lernräume so, dass ästhetische Erfahrungen möglich werden? Ästhetische Erfahrung ist ein recht abstraktes Konzept und nicht direkt beobachtbar. Wie kann sie sich äußern und sichtbar werden? Beispielsweise, wenn Schülerinnen und Schüler weiterführende Fragen stellen und eigenständig Entdeckungen machen (Offenheit und Neugier), wenn sie überrascht sind und staunen (Neuheit) oder sich selbst in der Wahrnehmung erleben, wenn sie offenkundig mit dem Augenblick verschmelzen (Versunkensein im Augenblick), von Musik oder Tanz berührt sind und Begeisterung zeigen (emotionale Beteiligung), aber auch wenn sie über das Geschehene reflektieren sollen oder eigene Entscheidungen treffen dürfen. Diese Dimensionen werden in ähnlicher Form vielfach in Publikationen zur Theorie der ästhetischen Erfahrung aus Kunst- oder Musikpädagogik genannt2 – unabhängig davon, ob diese sich auf Schule oder den außerschulischen Rahmen beziehen.
Es zeigt sich, dass vielen Schülerinnen und Schülern die Teilnahme am JeKits-Programm gefällt: Sie sind emotional involviert, haben Spaß und bringen mehrheitlich eine hohe Konzentration auf. Es bestehen zahlreiche Räume für Überraschung und Staunen. Offenheit und Neugier der Kinder werden in den drei Schwerpunkten unterschiedlich stark gefördert: Besonders im Schwerpunkt Tanzen scheinen gute Räume für das eigene Gestalten gegeben zu werden – dafür stehen als Aktionsformen Körperimprovisationen und Choreografien zur Verfügung. In den Schwerpunkten Instrumente und Singen sind hingegen seltener Räume für improvisatorische Aktionsformen und das Erfinden von Musik zu beobachten, die besonders förderlich für Offenheit und Neugier und für eigene Entscheidungen sind. Dementsprechend sind die schöpferisch-produktiven Anteile im Schwerpunkt Tanzen größer als in den eher reproduktiv ausgerichteten Schwerpunkten Instrumente und Singen.
Interessant erscheint dabei, dass die befragten JeKits-Lehrerinnen und -Lehrer – unabhängig von ihrem eigenen Hintergrund – produktiv ausgerichtete Aktionsformen wie Improvisation und das Erfinden von Musik für sehr wichtig für das JeKits-Programm halten, diesen aber in ihrem eigenen Unterricht recht wenig Platz einräumen. Ebenso spielen Formen des Reflektierens über das eigene Handeln und die Förderung von reflektierten Geschmacksurteilen im JeKits-Unterricht kaum eine Rolle, obwohl sie eine wesentliche Dimension von ästhetischer Erfahrung in gängigen diesbezüglichen Theorien darstellen.3
Ein flottes Tempo und eine straffe Unterrichtsstruktur gelten als Garanten für guten Unterricht – auch bei JeKits. Aber eben diese Eigenschaften können auch dazu beitragen, ästhetische Erfahrungen zu verhindern. Hier braucht es die Muße, Äußerungsformen von ästhetischen Erfahrungen wie das Versunkensein im Augenblick überhaupt herzustellen und zuzulassen. Manchmal entstehen diese überraschend – auch außerhalb des Unterrichts beim bloßen Ausprobieren auf Ins­trumenten.
Es kann diskutiert werden, inwiefern das ästhetische Erleben von Kindern Zieldimension eines auf die Entwicklung von instrumentalpraktischer Kompetenz ausgerichteten Inst­rumentalunterrichts sein kann. Mit ziemlicher Sicherheit sind ästhetische Erfahrungen aber eine unverzichtbare Grundlage für ästhetische – und damit auch musikalische – Bildung und damit sollten sie auch weiterhin ein Kernziel des JeKits-Programms sein.
Dass das gemeinsame Musizieren oder Tanzen förderlich für den sozialen Zusammenhalt einer Gruppe sein kann, gilt im Lichte zahlreicher Studien mittlerweile als hoch wahrscheinlich. Auch JeKits scheint positive soziale Praxen in besonderer Weise zu fördern, zum Beispiel in den Schwerpunkten Singen und Tanzen und im gemeinsamen Spiel im JeKits-Orchester. Im instrumentalen Gruppenunterricht liegt der Fokus stärker auf dem einzelnen Kind und es treten von Konkurrenzen geprägte Situationen eher auf. Im Ganzen ist es denkbar, dass die von vielen Beteiligten berichteten positiven Auswirkungen von JeKits auf das Klassenklima auch im Zusammenhang mit den gemeinsam gemachten ästhetischen Erfahrungen stehen, nicht nur mit den erlebten sozialen Gruppenformen. JeKits bietet zudem auch Chancen für die Inklusion von Kindern mit diagnostizierten Förderbedarfen, die im JeKits-Unterricht regulär mitlaufen können.4

Gerechte kulturelle Teilhabe

Die Teilnahme an kulturellen Angeboten ist sehr milieuspezifisch: Für Kinder aus bildungsfernen Schichten bestehen insbesondere in diesem Feld hohe Zugangshürden. Es gelingt dem JeKits-Programm tatsächlich, verstärkt Schulen aus sozio-ökonomisch weniger privilegierten Lagen zu erreichen. Sie nehmen deutlich häufiger am JeKits-Programm teil als Schulen in privilegierten Lagen. Allerdings ist zu beobachten, dass diese Kompensationswirkung im Übergang zum zweiten, freiwilligen JeKits-Jahr nachlässt: Je stärker eine Schule sozial oder ökonomisch belastet ist, desto geringer ist die Quote derjenigen, die freiwillig weiter am Programm teilnehmen.
Genauer betrachtet, unterscheiden sich die Übergangsquoten zum zweiten, freiwilligen Jahr auch stark nach dem inhaltlichen Schwerpunkt: Während in der Evaluation fast jede zweite der Schulen mit dem Schwerpunkt Instrumente eine Übergangsquote von mehr als 45 % aufweist und nur ein Zehntel eine Quote von weniger als 15 %, gehen nur in weniger als jeder zehnten Schule der Schwerpunkte Singen und Tanzen mehr als 45 % der Teilnehmer ins zweite JeKits-Jahr über, aber in mehr als der Hälfte dieser Schulen weniger als 15 %. Hier muss gesehen werden, dass die außerschulische Konkurrenz durch Kirchen oder Tanzschulen größer ist als im Bereich Instrumente, aber zum anderen mag hierbei auch die Form des Unterrichts eine Rolle spielen.5
Aber auch eine Gender-Dimension wird in der freiwilligen Teilnahme am zweiten JeKits-Jahr deutlich: Jungen nehmen in den Schwerpunkten Singen und Tanzen deutlich seltener teil als Mädchen, obwohl auch bei den Jungen im ersten JeKits-Jahr häufig eine Freude am JeKits-Unterricht zu beobachten ist. Beim Schwerpunkt Instrumente liegen hingegen keine signifikanten Unterschiede vor.6
Man kann diskutieren, ob die beschriebenen Unterschiede in den Übergangsquoten zum zweiten, freiwilligen JeKits-Jahr hinnehmbar sind oder ob es weiterer Maßnahmen bedarf, um mehr Kinder im Sinne einer gerechten kulturellen Teilhabe weiter im Programm zu halten.

Kommunale ­Bildungslandschaften

Als drittes Programmziel möchte JeKits einen Impuls für die Entwicklung kommunaler Bildungslandschaften durch die Ausgestaltung von Partnerschaften zwischen Schulen und ihren Bildungspartnern geben. Die im Rahmen der Evaluation befragten Schulleitungen der Grundschulen, der außerschulischen Bildungspartner und der kommunalen Verwaltungen beschreiben, dass JeKits die kommunale Zusammenarbeit zwischen den Partnern verbessert hat und die Bildungspartner leichteren Zugriff auf die Räumlichkeiten der Schulen bekommen. Dennoch sind auch zunehmende Knappheiten bei der Verfügbarkeit dieser Räume zu konstatieren. Einige Kommunen berichten, dass sich das politische Standing des Bildungspartners durch die Beteiligung an JeKits verbessert habe.
Wie bereits im Vorgängerprogramm „Jedem Kind ein Instrument“ stellt sich die Qualität der Zusammenarbeit der Tandems von Grundschullehrkraft und Lehrkraft des Bildungspartners als schwierig heraus: Die Kooperation verbleibt hier zum Bedauern der JeKits-Lehrenden zumeist auf einem niedrigen Niveau. Echtes Co-Teaching oder Teamteaching ist hingegen selten anzutreffen.
Insbesondere die JeKits-Lehrkräfte und die Leitungen der sie beschäftigenden Bildungspartner berichten von deutlichen Veränderungen in ihren beruflichen Rollen: Unterricht in heterogenen Großgruppen wie dem Klassenverband oder dem JeKits-Orchester stellt weiterhin eine Herausforderung dar. Konzeptionell wird ein verstärkter Bedarf an Anfangsunterricht und Elementarer Musikpädagogik wahrgenommen. Die Arbeitsstrukturen verändern sich mit einer zunehmenden Zersplitterung des Arbeitsalltags der Lehrenden mit sehr langen Arbeitstagen und oft zahlreichen Ortswechseln.
Mehr als die Hälfte der befragten JeKits-Lehrenden unterrichtet weniger als ein Viertel ihres Deputats im JeKits-Programm, etwa ein Fünftel aber sogar mehr als die Hälfte. Ins­besondere unter dieser Gruppe ist eine verstärkte Einbindung in die Strukturen der Grundschulen zu beobachten. Eine gewisse Zahl von JeKits-Lehrenden scheint dabei in das vom Mangel an Musiklehrkräften bestimmte Schulsystem zu driften, das ihnen bessere Verdienstmöglichkeiten bietet.7
Eine Reihe von Beteiligten am JeKits-Programm beklagt die kurze Programmlaufzeit und wünscht sich eine dem JeKi-Vorgängerprogramm ähnliche drei- oder vierjährige Laufzeit zurück. Andere, insbesondere schulische Beteiligte erachten ein verbindliches zweites JeKits-Jahr für sinnvoll, um den sozialen Zusammenhalt der Schülerinnen und Schüler weiter zu fördern und dem Ausschluss von Kindern aus bildungsferneren Familien entgegenzuwirken.8

1 www.jekits.de/das-programm/ueberblick (Stand: 15.6.2021).
2 z. B. Christian Rolle: Musikalisch-ästhetische Bildung. Über die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für musikalische Bildungsprozesse, Kassel 1999; Publikationen von Georg Peez unter https://georgpeez.de/buecher (Stand: 15.6.2021).
3 Thomas Busch/Andreas Lehmann-Wermser: Evalua­tion des Programms Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen. Im Auftrag der JeKits-Stiftung, Abschlussbericht Dezember 2019, S. 11 ff., www.jekits.de/app/uploads/ 2020/10/JeKits-Evaluation.pdf (Stand: 15.6.2021).
4 ebd., S. 25 ff.
5 ebd., S. 31 ff.
6 ebd., S. 36.
7 ebd., S. 49 ff.
8 ebd., S. 60 f.

Die gesamte Evaluation des Programms „Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen“ finden Sie unter: www.jekits.de/app/uploads/2020/10/JeKits-Evaluation.pdf

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2021.