© Jörg Jewanski

Jewanski, Jörg / August Schmidhofer / Christoph Reuter

Langer Weg zur eigenen Identität

Eindrücke vom Musikschulsystem in Madagaskar

Rubrik: Musikschule
erschienen in: üben & musizieren 1/2022 , Seite 50

Seit den frühen 1960er Jahren bemüht sich Madagaskar um den Aufbau eines Musikschulsystems. Angefangen mit deutscher Unter­stützung entwickeln sich die ­madagassischen Musikschulen ­langsam eigenständig weiter.

Madagaskar ist nicht nur ein Inselparadies im Indischen Ozean mit Sandstränden unter Palmen, sondern auch eines der ärmsten Länder der Welt. Obwohl eineinhalb mal so groß wie Deutschland, leben hier nur 25 Millionen Menschen, außerhalb der wenigen Städte zumeist in einfachen Schilf- oder Lehmhütten, ohne Strom, ohne fließendes Wasser, ohne Kanalisation. Die Insel ist ein kultureller Schmelztiegel mit Einflüssen aus Südostasien, Afrika, Arabien und Europa. Ein dichtes Musikschulsystem, vergleichbar dem in Deutschland, gibt es hier nicht. Dennoch haben wir uns auf Spurensuche begeben und sind fündig geworden.
In der Hauptstadt Antananarivo, kurz Tana genannt, treffen wir Reinhard Schwarte zu einem Gespräch in seinem Hotel, das er zusammen mit seiner madagassischen Ehefrau seit vielen Jahren führt. Er ist studierter Schulmusiker mit den Hauptfächern Klavier, Chorleitung und Musikwissenschaft, inzwischen 89 Jahre alt und hat ab 1971 in Madagaskar die Grundlagen für Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen geschaffen sowie eine Musikschule gegründet, die bis heute existiert.
In Madagaskar gab es bereits eine abendländisch geprägte Musikkultur: Europäische Missionare hatten im 19. Jahrhundert westliche Kirchenmusik nach Madagaskar gebracht und versucht, die in ihren Augen minderwertige traditionelle Musik zu unterdrücken. ­Eine erste Musikakademie existierte – allerdings nur für wenige Monate – bereits 1862/ 63, gegründet von König Radama II. Weiße Missionare sollten hier religiöse Lieder unterrichten, jedoch verkam das fromme Institut bald zu einem Ort des Lasters, in dem die Nächte durchgetanzt wurden und sich die Besucher amourösen Abenteuern hingaben, was bald zur Schließung führte.
1896 wurde Madagaskar eine französische Kolonie und erst 1960 unabhängig. Die Franzosen hatten zur Kolonialzeit ein Theater gebaut, um ihre Operetten spielen zu können. Auch eine französische Musikschule gab es, die aber schloss, als der damalige Leiter in die Politik wechselte. Beim Aufbau des neuen Musikunterrichtswesens in den frühen 1960er Jahren ging man neue Wege. Reinhard Schwarte erzählt, was ihm berichtet wurde: „Es hieß: Wenn wir schon Musikunterricht aufbauen wollen, dann nehmen wir keinen Franzosen, denn wir wollen nicht, dass die uns weiterhin mit ihrer Kultur überschütten. Das haben sie lange genug gemacht.“ Was war die Alternative? „Im Ministerium saßen ein paar Leute, die vom deutschen Bildungssystem angetan waren und gehört hatten, dass es in Deutschland recht ordentliche Musiklehrer gebe.“

Deutsche Pädagogen in Madagaskar

Zunächst war der deutsche Musikpädagoge und Chorleiter Kurt Suttner, der später Professor für Musikpädagogik in Augsburg wurde, Berater des madagassischen Kultusministeriums. Seine Aufgabe war es, ein Konzept für einen Musikunterricht auf der Basis der madagassischen Kultur zu entwickeln. Denn schon die madagassischen Kinderlieder unterscheiden sich mit ihrer Frage-Antwort-Form der Texte und dem Wechsel von einem 6er- und drei 2er-Takten von deutschen. Nach Suttners Fortgang wurde eine Stelle ausgeschrieben. Schwarte, damals fast 40 Jahre alt und Studienrat an einem Gymnasium, bewarb sich, wurde angenommen und zog 1971 nach Madagaskar. Neben der inhaltlichen Herausforderung kam hinzu: „Die Jahre, die man damals in einem gesundheitsgefährdenden Gebiet verbrachte, wozu Madagaskar mit der Gefahr einer Malaria­erkrankung gehörte, zählten doppelt für die Pension.“ Sein Vertrag war auf vier Jahre begrenzt.
Schwarte wurde Mitglied des madagassischen Erziehungsministeriums und war zunächst für den Aufbau des Musikunterrichts an allgemeinbildenden Schulen zuständig. Ihm wurde ein kleines Flugzeug zur Verfügung gestellt, mit dem es quer durch Madagaskar ging. Zusammen mit einem Team suchte er Musiker vor Ort, die zu Musiklehrern ausgebildet werden konnten. Die Ausbildung wurde dann von ihm selbst und seinem Team übernommen, denn ein Musikstudium, das auch abendländische Musik integ­riert, gab und gibt es in Madagaskar nicht. So gut es anfing, so kompliziert wurde die Situation durch die instabile politische Situa­tion. „Der Präsident wurde ermordet, Schulen wurden geschlossen. Die Botschaft brach dann die ganze Aktion ab.“ Immerhin wurde verfügt, dass nun in Grundschulen Musikunterricht stattfinden musste. Die Qualität ließ aber zu wünschen übrig. „Es wurden Lehrer angestellt, die ein Instrument spielten, z. B. ein Geiger. Die haben dann Geigenunterricht gegeben, aber das ist die Aufgabe einer Musikschule und nicht einer allgemeinbildenden Schule.“
Nach diesen nicht immer befriedigenden Erfahrungen gründete Reinhard Schwarte 1973 das Centre National d’Enseignement de Musique (CNEM), wörtlich übersetzt: Nationales Musiklehrzentrum. „Wir haben Anzeigen aufgegeben, mit denen wir potenzielle Lehrer suchten. Diese waren dann gleichzeitig auch meine Schüler, denen ich Didaktik beibrachte. Wir wollten ja weg von der Kultur anderer Länder und nicht einfach eine französische Lehrmethode übernehmen. Gleichzeitig kommen wir natürlich um Chopin und Schumann nicht herum“, so die Meinung von Schwarte. „Beides musste vereint werden. Ich habe dann mitgeholfen, Lehrwerke zu entwickeln, in denen von Anfang an madagassisches Liedgut verarbeitet ist.“

Schwierige Unter­richtsbedingungen

Zu Anfang war die Ausstattung der Musikschule noch ausbaufähig: „Als ich anfing, hatten wir nur ein einziges Klavier. Da saß ein Schüler dran. Für die übrigen hatte ich Blätter mit aufgemalten Klaviertasten dabei, auf die sie ihre Finger drückten.“ Aber die eigentlichen Schwierigkeiten lagen auf anderen Ebenen: „Das Problem hier in Tana sind die langen Fahrzeiten wegen des Straßenverkehrs. Die Schüler müssen vormittags in die Schule, gehen mittags nach Hause, müssen nachmittags wieder in die Schule und am Abend dann zu Hause Hausaufgaben machen. Wann sollen sie ausreichend Zeit zum Üben finden, um zumindest passabel Klavier spielen zu können? Das funktioniert nicht. In anderen Ländern gibt es besondere Schulen für begabte Kinder. Hier gibt es das nicht. Daher ist der Fortschritt im Unterricht sehr gering.“
Daneben gab es auch von offizieller Seite Ressentiments gegenüber klassischer Musik: „Das Kulturministerium war und ist immer noch distanziert gegenüber klassischer Musik, weil das nicht madagassische Musik, sondern die der Ausländer ist. Es war nie möglich, Stipendien für sehr begabte Schüler zu bekommen, um diese mal zu einem Festival oder einer Masterclass ins Ausland zu schicken.“ Das daraus resultierende, im internationalen Vergleich eher geringe musikalische und spieltechnische Niveau führt zu einer Flucht in vor allem europäische Musikmetropolen. „Wer das Geld selbst auftreiben kann, geht ins Ausland und kommt nie wieder. Alle Talente gehen weg. Sie kommen höchstens zurück, um ein Konzert zu geben und zu zeigen, was sie alles im Ausland gelernt haben.“
1975 musste Schwarte nach Deutschland zurück, kam nach seiner vorzeitigen Pensionierung 1991 aber wieder nach Madagaskar, war jedoch nicht mehr in das CNEM involviert. 2002 wurde in die dortige Ausbildung der Tanz hinzugenommen und der Name der Musikschule erweitert auf Centre National d’En­seignement de Musique et de Danse (CNEMD). 2004 gründete Schwarte seine eigene Akademie, eine Art privates Konservatorium, um dort in einem kleinen Team von Dozenten Lehrer auszubilden. Jedes Jahr finden Prüfungen statt, immer offiziell mit einem Vertreter des Ministeriums und der Universität. Die Ausbildung ist so angelegt, dass sowohl zukünftige Gymnasial- als auch Musikschullehrer teilnehmen können. Nun jedoch zieht sich Schwarte langsam aus der Akademie zurück, deren Zukunft offen ist.

Überwiegend madagassische Musik

Nach unserem Besuch bei Reinhard Schwarte treffen wir am CNEMD die in Madagaskar geborene Holy Razafindrazaka, die die Musikschule seit 2019 leitet und Gesang in Salzburg, Paris und St. Petersburg studiert hat. Von ihr, einer früheren Schülerin Schwartes, erfahren wir, dass es in Madagaskar insgesamt vier CNEMD-Schulen gibt: die größte in Tana und drei weitere in den Provinzhauptstädten Mahajanga, Toliara und Toamasina. Daneben gibt es noch vereinzelt Musikschulen anderer Anbieter. Mit knapp zwei Millionen Einwohnern ist Antananarivo die mit Abstand größte Stadt Madagaskars. Das einzige Musikschulgebäude, obwohl zentral gelegen, nimmt sich bescheiden aus. Es wird aktuell renoviert und soll danach über zehn Unterrichtsräume verfügen und einen Saal für den Tanzunterricht. 350 Schülerinnen und Schüler werden aktuell von 30 Lehrkräften in den Fächern Klavier, Gitarre, Violine, Saxofon, Schlagzeug, Gesang, Theorie, Tanz und in der Röhrenzither Valiha unterrichtet, dem madagassischen Nationalinstrument.
Es gibt zwar einen übergeordneten Lehrplan für jedes Instrument, an dem sich die Lehrkräfte orientieren sollen, aber der Unterricht in klassischer Musik ist nicht unproblematisch, wie Razafindrazaka berichtet: „An einzelnen Takten oder Phrasierungen zu arbeiten, wie es in der klassischen Musik üblich und notwendig ist, ist den Madagassen fremd. Der Wille zur Perfektion fehlt. Schüler ziehen es vor, Stücke einfach nur durchzuspielen.“ Das liegt aber auch an den Lehrkräften. „Die Lehrer verfügen nicht über ein ausreichendes Niveau, das sie befähigt, Klassik zu unterrichten. Sie haben kein klassisches Stu­dium absolviert. Derzeit wird überwiegend madagassische Musik unterrichtet, weil die Lehrer diese am besten beherrschen. Der Unterricht in klassischer Musik wurde erst einmal ausgesetzt, um in der Zwischenzeit die Lehrkräfte besser darauf vorbereiten zu können.“
Dieses Pendeln zwischen traditioneller und westlicher Musik ist typisch für die madagassische Musikkultur, aber die Liebe der Madagassen zu ihrer traditionellen Musik ist ungebrochen. „Die Motivation der Schüler in der Musikschule ist es nicht, mit klassischer Musik zu konzertieren, sondern bei Familienfesten populäre Musik zu spielen oder in der Kirche die madagassischen Kirchenlieder zu begleiten.“ Klavier und Gitarre, die beiden beliebtesten Instrumente, werden daher zusätzlich zur Klassik auch im Bagasy-Stil unterrichtet, eine traditionelle Musikart mit am Sprachrhythmus ausgerichteten Liedern.
Die Lehrer, die alle in Teilzeit arbeiten, haben als Gehalt nur das Unterrichtsentgelt abzüglich der Verwaltungskosten, aber keine Kranken- oder Rentenversicherung und müssen darum nebenbei noch Privatunterricht geben. Wird man krank, muss der Unterricht nachgeholt werden. Nur der Leiter oder die Leiterin der Musikschule wird vom Staat bezahlt.
Unterrichtet wird jeder Schüler und jede Schülerin mit einer Unterrichtsstunde pro Woche. Die Gebühren dafür betragen 20000 Ariary pro Monat, das sind etwa fünf Euro. Im Vergleich zur Wohnungsmiete ist das viel Geld, denn eine kleine günstige Wohnung zu mieten kostet etwa 50 Euro im Monat. Andererseits kostet eine Unterrichtsstunde etwa so viel wie ein Mittagessen in einem mittleren Restaurant.
Unterrichtet wird in Gruppen mit maximal vier TeilnehmerInnen. Klassenvorspiele, Noten oder Zeugnisse gab es bisher nicht. Doch nun hat Razafindrazaka Prüfungen eingeführt, wobei bei Nichtbestehen die Prüfung wiederholt wird und der Schüler oder die Schülerin besondere Zuwendung erfährt. „Für ältere Erwachsene gibt es keine Prüfungen, damit diese ohne Stress am Unterricht teilnehmen können.“ Der Schwerpunkt liegt jedoch auf dem Unterricht mit Kindern und Jugendlichen, die in der Regel spätestens mit dem Abitur die Musikschule verlassen. Holy Razafindrazaka ist hochmotiviert und will Neues erreichen: Langfristig sollen Chor und Orchester eingerichtet, Pop und Jazz angeboten werden. Ihr Ziel ist es, CNEMD-Außenstellen in allen 22 Regionen Madagaskars aufzubauen, also auch in den ländlichen Gebieten.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 1/2022.