Arro, Edgar

Largo

für Violoncello und Klavier

Rubrik: Noten
Verlag/Label: eres, Lilienthal 2014
erschienen in: üben & musizieren 4/2015 , Seite 57

Ein schöpferisches Leben zwischen Bewahrung und Weiterentwicklung eines kulturellen Erbes und den Anforderungen eines repressiven Regimes: Dem estnischen Komponisten, Organisten und Musikpädagogen Edgar Arro (1911-1978) scheint dieser Spagat gelungen zu sein. Neben Kammermusik, sinfonischen Werken und Bühnenmusiken veröffentlichte er beispielsweise 56 estnische Volksweisen, außerdem zahlreiche Chorkompositionen, die bei den traditio­nellen Sängerfesten aufgeführt wurden und Titel wie Glück, Erntelied oder Freundschaft tragen. Auch eine Operette in estnischer Sprache entstand in den 1950er Jahren und erfreute sich großer Beliebtheit. Seine Orgelkompositionen basieren vielfach auf Volksmelodien seiner Heimat.
Zugleich fehlte es nicht an öffent­licher Anerkennung. Arro, der am Zweiten Weltkrieg aktiv teilgenommen hat, wurde 1944 Dozent am Talliner Konservatorium, später erhielt er dort eine Professur. Zeitgleich arbeitete er an der Talliner Musikschule sowie als Chorleiter und erhielt diverse Auszeichnungen: zwei Mal den estnischen Staatspreis sowie ­Ehrungen der estnischen SSR (Soviet Socialist Republic) als Künstler des Volkes. Mit anderen Worten: Edgar Arro stellte sich in den Dienst des sowjetischen Kulturlebens, vermochte es aber – vermutlich nicht zuletzt aufgrund der peripheren Lage seiner Heimatlandes –, die gewachsenen Traditionen estnischer Musik zu pflegen und insoweit den sozialistischen Zielen kultureller „Erbauung“ anzupassen, dass seine Musik niemals in die Nähe des sozialistischen Realismus russischer Prägung geriet.
Die Eres-Edition, in deren Verlagsprogramm baltische Komponisten einen Schwerpunkt bilden, betreut heute Arros kompositorisches Schaffen, darunter auch das vorliegende, nur 47 Takte umfassende Largo für Violoncello und Klavier: eine durch und durch romantische D-Dur-Miniatur, deren Gestus nicht einmal ansatzweise ihre Entstehung in der Mitte des 20. Jahrhunderts vermuten lässt.
Das weit ausschwingende Haupt­thema strahlt Behaglichkeit aus – es erinnert ein wenig an Elgars Kantilenen – und ist sowohl der baritonalen als auch, eine Oktave höher, der tenoralen Lage des Cellos geradezu auf den Leib geschneidert, gute Legato-Bogentechnik vorausgesetzt.
Interpoliert zwischen die beiden jeweils sechzehn Takte umfassenden Durchgänge dieser Melodie erklingt ein achttaktiger Mittelteil in h-Moll, der die Cellostimme für einige kurze Momente ins hohe (Daumenlagen-)Register entführt. Ansonsten verbleibt (abgesehen von zwei Ausflügen zum h in der 6. Lage) der Ambitus des Cellos in den unteren Lagen. Vollgriffig-brahmsisch kommt der Klavierpart daher, die linke Hand ist durchweg in Oktaven gesetzt und weckt mithin Assoziationen an machtvolle Orgelbegleitungen.
Wer eine herzerwärmende und zudem technisch recht leicht zu realisierende Petitesse sucht, wird sie in diesem Stück finden – mehr aber auch nicht.
Gerhard Anders