Hayward, Klara
„Lass es mich selbst wollen!“
Selbstbestimmung im Sinne von Mündigkeit als anzustrebende Motivationsqualität
Wie motiviere ich meine SchülerInnen, ohne sie zu manipulieren? Indem ich aufhöre, sie motivieren zu wollen, und damit anfange, sie in ihrer Selbstbestimmung zu fördern.
Wie in vielen Bildungskontexten wird auch für den Instrumental- und Gesangsunterricht häufig die Frage formuliert: Wie motiviere ich als Instrumentalpädagogin meine SchülerInnen zum „Dranbleiben“ und für das Üben zuhause? Nicht selten wird diese Frage als Reaktion auf einen empfundenen Mangel an Motivation bei einem Schüler gestellt, in der Hoffnung, Strategien zu finden, die diesem Mangel Abhilfe schaffen. Es sind solche Situationen, in denen dann z. B. versucht wird, über die Vergabe von Smileys Handlungsanreize zu schaffen und dadurch die Motivation zu steigern.
So nachvollziehbar solche Überlegungen aus der Perspektive der Unterrichtspraxis auch sein mögen, so finde ich sie dennoch problematisch, denn ihnen haftet ein manipulativer Charakter an. Dies wird deutlich, wenn man die Überlegungen auf ihren Kern reduziert, welcher sich folgendermaßen formulieren lässt: Wie bringe ich meinen Schüler oder meine Schülerin dazu, etwas zu tun, was er oder sie von sich aus eigentlich gar nicht tun möchte?
Im vorliegenden Artikel möchte ich den Umgang mit Motivation auf eine nicht-manipulative Grundlage stellen. Entscheidend hierfür ist, dass Motivation nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ betrachtet wird. Ein qualitativer Anspruch an das motivationale Erleben von SchülerInnen schließt manipulatives Eingreifen in den Lernprozess von Seiten der Lehrperson aus. Solch einen Anspruch fasse ich in den Begriff der Mündigkeit.1 Er bündelt verschiedene motivationale Zustände, die trotz ihrer Verschiedenheit gemeinsame Charakteristika aufweisen. Die Bedeutungsgeschichte des Begriffs verweist dabei auf das zentrale gemeinsame Charakteristikum: Es sind Motivationsformen, die sich zuvorderst über einen maximalen Grad an erlebter Selbstbestimmung definieren.2
Drei selbstbestimmte motivationale Zustände
Grundlage meines Mündigkeitskonzepts ist die Selbstbestimmungstheorie (Self-Determination Theory = SDT) von Edward L. Deci und Richard M. Ryan. Im Vergleich zu anderen Motivationstheorien ist es ein Spezifikum der SDT, dass sie sich neben der Quantität sehr differenziert mit der Qualität von Motivation befasst.3 Die jeweilige Qualität verschiedener Motivationsformen wird – wie der Titel der Theorie besagt – zuvorderst über deren Grad an Selbstbestimmung bestimmt.
Anhand der SDT lassen sich drei motivationale Zustände herausarbeiten, die sich durch einen maximalen Grad an Selbstbestimmung auszeichnen: intrinsische Motivation, integriert extrinsische Motivation und – als notwendige Voraussetzung für die Entwicklung integriert extrinsischer Motivation – erfolgreiche Internalisierungsprozesse. Bei allen anderen Formen der Motivation ist der Grad an erlebter Selbstbestimmung durch anteilige Fremdbestimmung zumindest geschmälert, wenn nicht gar vollständig durch Fremdbestimmung ersetzt.
Intrinsische Motivation scheint – zunächst – für pädagogisches Handeln nicht von zentralem Interesse, da sie sich nicht „erzeugen“ lässt. Per definitionem ist ausgeschlossen, dass von außen kommende Impulse, wie Aufforderungen einer Lehrperson, konkrete intrinsisch motivierte Handlungen auslösen. Der Impuls für eine intrinsisch motivierte Tätigkeit entspringt der handelnden Person selbst. Die Tätigkeit wird frei von jeglichen anderen Beweggründen aus reinem Interesse oder reiner Freude an der Tätigkeit von der handelnden Person selbst gewählt. Allerdings kann das Aufkommen von intrinsischer Motivation durch die soziale Umgebung erschwert, wenn nicht gänzlich gehemmt werden.4 Die Bedeutung pädagogischen Handelns, welches sich ja als Gestaltung einer sozialen Umgebung auffassen lässt, darf also auch für die intrinsische Motivation nicht unterschätzt werden.
Eine aktivere Rolle innerhalb meiner Mündigkeitskonzeption kommt der sozialen Umgebung bei der zweiten Motivationsform und ihrer notwendigen Voraussetzung zu: integriert extrinsische Motivation und die sich dahinter verbergenden Internalisierungsprozesse. Per definitionem steht hinter der extrinsischen Motivation ein äußerer Handlungsimpuls.
Viele Motivationstheorien, die nur von einer uniformen extrinsischen Motivation ausgehen, würden aufgrund des externen Handlungsimpulses die sodann extrinsisch motivierte Handlung per se als fremdbestimmt ansehen. Laut der SDT können jedoch trotz externer Regulation extrinsisch motivierte Handlungen durchaus selbstbestimmt erlebt werden – sofern die Anforderung von der handelnden Person vollständig internalisiert und somit in das eigene Selbst integriert wurde.
Bei solch einem Internalisierungsprozess setzt sich die Person mit den äußeren Handlungsaufforderungen und den sich dahinter verbergenden Werten auseinander, setzt diese in Bezug zu ihren eigenen Wertevorstellungen und bringt sie idealerweise in Einklang mit dem eigenen Selbst. Dann stehen die äußeren Aufforderungen nicht mehr im Widerspruch zur eigenen Person. Die Person kann den Aufforderungen nachgehen, ohne auf Selbstbestimmung zu verzichten, da sie nun nicht ausschließlich äußeren Aufforderungen nachkommt, sondern auch bzw. zuvorderst gemäß ihren eigenen Wertevorstellungen handelt.5
Ein Internalisierungsprozess bringt zwei der drei psychischen Grundbedürfnisse, die der Mensch gemäß der SDT hat,6 in Einklang: sein Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit, welches ihn dazu veranlasst, sich einer sozialen Gruppe und deren Handlungsimpulsen anzupassen, und sein Bedürfnis nach Selbstbestimmung, das ihn dazu veranlasst, gemäß seinen eigenen Interessen und Wertevorstellungen zu agieren.7 Dass diese beiden Grundbedürfnisse durchaus in Konkurrenz zueinander treten können, wird noch deutlich werden.
1 Der vorliegende Artikel hat viele Berührungspunkte mit meiner Dissertation, in der ich ein Konzept musikalischer Mündigkeit entworfen habe. Dafür habe ich nicht nur einen qualitativen Anspruch an das motivationale Erleben, sondern auch an das Musizieren formuliert und darüber den Anspruch der Selbstbestimmung an musikalisches Handeln gebunden. Hier gebe ich nur in sehr begrenztem Umfang und mit etwas anderem Fokus den Anspruch an das motivationale Erleben zusammenfassend wieder und gehe der Anbindung an musikalisches Handeln nicht weiter nach. Vgl. Klara Hayward: Musikalische Mündigkeit – eine bestimmte Qualität im Erleben des eigenen Selbst beim Musizieren“ (im Druck bei Waxmann).
2 Der Begriff der Mündigkeit hat einen umfangreichen philosophischen und bildungstheoretischen Diskurs provoziert. Bei aller Diversität des Diskurses lässt sich laut Markus Speidel als gemeinsamer Bedeutungskern „das Freiheitsvermögen des handelnden Subjekts und die [damit] einhergehende Verantwortungspflicht“ ausmachen (Erziehung zur Mündigkeit und Kants Idee der Freiheit, Frankfurt am Main 2014, S. 69). Dies entspricht unserem alltagssprachlichen Verständnis: Das Digitale Wörterbuch Deutscher Sprache umschreibt Mündigkeit als „Vermögen, selbstbestimmt und verantwortungsvoll zu handeln“ (www.dwds.de/wb/Mündigkeit, Stand: 2.12.2021). Da über den Kontext der Motivation mein Diskurshintergrund ein psychologischer ist und deswegen die Qualität von Mündigkeit ins Erleben einer Person verlagert ist, spreche ich von „erlebter Selbstbestimmung“ als zentrale Qualität, welche ein Verantwortungsgefühl aus psychologischer Sicht impliziert.
3 Die qualitative Ausdifferenzierung von Motivation ist in eine der Mini-Theorien gefasst, in die sich die Self-Determination Theory aufteilt: „Organismic Integration Theory“; vgl. z. B. Richard M. Ryan/Edward L. Deci: Self-Determination Theory. Basic Psychological Needs in Motivation, Development and Wellness, New York 2017, Kap. III. 8.
4 vgl. ebd., S. 123 ff.; Richard M. Ryan/Edward L. Deci: „Overview of Self-Determination Theory. An Organismic Dialectical Perspective“, in: Edward L. Deci/Richard M. Ryan (Hg.): Handbook of Self-Determination Research, New York 2002, S. 10; Richard M Ryan/Edward L. Deci: „Self-Determination Theory and the Facilitation of Intrinsic Motivation, Social Development, and Well-Being“, in: American Psychologist 1/2000, S. 72; Edward L. Deci/Richard M. Ryan: „The ,What‘ and ,Why‘ of Goal Pursuit. Human Needs and the Self-Determination of Behaviour“, in: Psychological Inquiry 4/2000, S. 233 f.
5 vgl. Deci/Ryan, „The ,What‘ and ,Why‘“, S. 235 f., 239; Ryan/Deci, „Overview of Self-Determination Theory“, S. 15, 19; Ryan/Deci, „Self-Determination Theory and the Facilitation of Intrinsic Motivation“, S. 71 ff.; Ryan/Deci, Self-Determination Theory, S. 189 f.
6 vgl. u. a. Ryan/Deci, Self-Determination Theory, Kap. III. 10.; Deci/Ryan, „The ,What‘ and ,Why‘“.
7 vgl. Ryan/Deci, „Overview of Self-Determination Theory“, S. 5-9; Ryan/Deci, Self-Determination Theory, S. 4, 8 f., 10 f.; Deci/Ryan, „The ,What‘ and ,Why‘“, S. 231.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2022.