Rüdiger, Wolfgang
„Lass raus, was in dir steckt!“
Das Musikprojekt „Der Schrei“ führte 200 Jugendliche aus vier Städten mit dem SWR-Sinfonieorchester und Sylvain Cambreling zusammen
Wer am 20. Juni 2009 im Konzerthaus Freiburg die Premiere von „Der Schrei“ mit knapp 200 Jugendlichen aus Lörrach, Freiburg, Offenburg und Karlsruhe und dem SWR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Sylvain Cambreling miterlebt hat, wird sich einer unglaublichen Vielfalt von musikalischen Stimmen und Stilen, einer dramaturgischen Spannung, Stringenz und Sogkraft, ja jubelnden Begeisterung erinnern, die dieses wohl größte Musikprojekt nach „Rhythm is it!“ von Anfang bis zum Ende atmete. Signal-Rufe und Schrei-Performances bereits am Eingang, auf den Ebenen des Foyers dann eine polystilistische Collage aus verschiedensten Klanginseln, in immer schnellerem Wechsel an- und ausgeknipst von Werner Englert, einem der künstlerischen Leiter des Projekts: ein weibliches Gesangsquintett, ein Streichquartett mit Sprechgruppe, ein Harfenbarde, eine Rockband mit E-Geige, Fetzen eines Schubert-Lieds, dazu Schrei-Musiken aller Art, matte bis martialische, rohe bis erotische, suchende bis lebenssüchtige in heterogensten Ensemblegruppen – bis eine Einton-Improvisation die Besucher in den Konzertsaal lenkt, wo SWR-Sinfonieorchester und Jugendliche die Collage mit „domestizierten Schreien“ und Anti-Schreien von Scelsi, Sciarrino und Beethoven – die Fünfte als Protestschrei der Musikgeschichte schlechthin – samt Kommentaren fortsetzen.
Nun liegt „Der Schrei“ als Buch & DVD in bewährter Koproduktion von SWR und Schott Music vor und dokumentiert die Entwicklungsstadien „vom Chaos der Einzelnen zum Rhythmus der Gemeinschaft“ (O-Ton DVD) mitsamt allen Wundern und Verwerfungen, Kreationen und Krisen, „Revolten und Umarmungen“ (Sylvain Cambreling). Exzellent gestaltet von Studierenden der Freien Hochschule für Grafik-Design und Bildende Kunst Freiburg, spiegelt die Dokumentation mit ihren musikalisch bewegten Fotos und den flotten Kurztexten von Volker Hagedorn den Collagecharakter des Musikprojekts wider, das sie atmosphärisch brillant einfängt.
Die fünf Kapitel des Buchs, gefolgt von einem Projekttagebuch samt Auflistung aller Mitwirkenden, veranschaulichen die Prozesse und Stationen des Projekts aus der Sicht verschiedener Personen, so des Saxofonisten und Musikpädagogen Werner Englert in der initialen „Schatzsuche“, der das Schreiprojekt zusammen mit Cambreling angeschoben hat. Deutlich wird hier, dass die musikalischen Ideen und Potenziale der Jugendlichen im Zentrum stehen und den primären Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit mit den SWR-Musikern bilden sollten – ein Anspruch, der freilich nicht ganz eingelöst werden konnte. Denn welche Welten trafen da zusammen: Orchesterprofis und jugendliche Laien, Schülerinnen und Schüler mit hervorragenden instrumentalen und vokalen Fähigkeiten und solche ohne Vorkenntnisse, Jugendliche mit körperlichen und geistigen Behinderungen und Nicht-Behinderte, Musiker aller Stilrichtungen und Instrumentengruppen als Leiter der insgesamt 18 Teams in den vier Städten, die die knapp 200 Jugendlichen – ein Drittel war aus verschiedenen Gründen abgesprungen – über neun Monate lang in eine große, konzeptionell wachsende Praxisgemeinschaft hinein geleiteten.
„Möglich ist alles“, befindet im zweiten Kapitel SWR-Chefdirigent Sylvain Cambreling und entwickelt die Idee, den Abend auf Beethovens Fünfte, erster Satz, als Rahmen für musikalische Kommentare der Jugendlichen zulaufen zu lassen – eine Vorgabe, die dem Projekt die entscheidende Wende und den Anlass zu kreativen Impulsen wie Krisen gleichermaßen gab, stieß die Aura des großen Werks doch auf die geballte Ablehnung etlicher Jugendlicher, die sich eine „direktere und individuellere“, mehr improvisatorische Zusammenarbeit mit den Orchestermusikern gewünscht hatten. Dass die Revolte am Ende in einen Riesenerfolg umschlug – per aspera ad astra, wie bei Beethoven – und Schlagzeuger ihre Wut zwischen die Klänge der zerschnittenen Originaltakte hämmern, Rapper ihrer Isolation zu Beethoven-Klängen Ausdruck geben und ergreifende Rezitationen zu Wort und Klang kommen konnten, lag an der besonderen Melange von Kompromissbereitschaft und Power, kreativer Konzept- und Körperarbeit, Energie und emotionaler Aufladung aller Beteiligten: „Das war sehr intensiv“, so Cambreling.
Diese emotionale Intensität kommt vor allem in den Kapiteln der Jugendlichen zum Ausdruck. „Und einer kann nur’s Klepperle spiele“ ist ein berührendes Porträt des Schülers Pasqual Maurer aus Gengenbach, der mit seinen virtuosen Klepperle-Rhythmen einen entscheidenden Beitrag zum Zusammenfinden aller lieferte. Und im letzten Kapitel: „Meine Ohren sausen und brausen“ sind es die Beethoven-Rezitationen der 17-jährigen Helen Reichardt, die zeigen, was Musik bedeuten kann: leben und überleben in heller wie in dunkler Zeit. „Man hört jetzt etwas Neues“ und „Für mich ist in der Premiere was explodiert“, so endet der Text des Buchs, das gerne durch eine Programmfolge des Konzerts hätte ergänzt werden können. Und diese Explosion von Emotionen fängt die fabelhafte Filmdokumentation von Ina Held und den Mediengestaltern des SWR auf der Begleit-DVD auf besondere Weise ein: aus der Perspektive von vier Jugendlichen und mit O-Tönen des köstlichen Cambreling und vieler anderer.
Dass bei aller Dichte der Darstellung die (selbst)kritische Reflexion eines solch publicityträchtigen Events zu kurz kommt, die Nachhaltigkeitsfrage nicht gestellt (wie geht es weiter?) und die Notwendigkeit ebenso förderungswürdiger kontinuierlicher Basisarbeit nicht hervorgehoben wird, ist leicht zu kritisieren, berührt aber weder die Absicht der Projektleiter (ein Manko?) noch den Sinn der Publikation. Weitere Maßnahmen, Folgeprogramme und Studien müssten folgen. Was wir übenden & musizierenden Instrumentallehrkräfte vom „Schrei“ jedoch lernen können, ist: dass es sich lohnt, zündende Ideen zu entwickeln und Projekte in Angriff zu nehmen, deren Ausgang wir nicht kennen; dass Jugendliche aller Milieus ein unglaubliches Ausdrucksbedürfnis haben und zusammen mit anderen in allen Musikformen und
-stilen herausschreien, flüstern, singen, spielen wollen, was in ihnen steckt; dass unsere SchülerInnen gerne improvisieren, experimentieren, Musik erfinden, gestalten und aufführen; und dass sie gerne in Konzerte gehen, wenn die emotionale Basis stimmt. Denn immer wieder sehe ich seitdem Jugendliche aus dem Schreiprojekt in den Konzerten des Sinfonieorchesters des SWR. Wenn das kein Erfolg künstlerischer Musikvermittlung ist!
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 6/2009.