Rüdiger, Wolfgang

Lasst Gesten sprechen!

Wo Worte im Instrumentalunterricht stören

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 5/2013 , Seite 38

Musik ist in erster Linie Klang, umrahmt von Stille. Worte zerstören oftmals ihre Aura, vor allem, wenn sie allzu direkt erfolgen oder gar in die Musik ­hineingesprochen werden. Dies aber geschieht oft im Instru­mentalunterricht: Der Schüler spielt, der Lehrer redet – lobt, tadelt, korrigiert, kommentiert, erklärt, gibt An­weisungen. Wolfgang Rüdiger plädiert dafür, weniger zu reden und mehr zu zeigen.

Kein Lehrer ist davor gefeit, zu viel zu reden. Das liegt wohl nicht zuletzt daran, dass wir über viele Jahre erfahren haben, dass Unterricht weitgehend aus wörtlicher Unterweisung besteht. Das setzt sich fest, wird zur Gewohnheit und führt dazu, dass geredet, geredet, geredet wird – auch dort, wo dies nicht nötig, ja kontraproduktiv ist. Beim Inst­rumentlernen geht es doch vornehmlich um Klänge, Körperhaltungen, Spielbewegungen. Dabei können Sprache und Sprechen in mancherlei Hinsicht hilfreich sein. Es gibt aber auch viele Situationen, in denen Worte unangebracht sind, ein Sich-Freispielen verhindern und vom Körper-Klang-Erleben ablenken. Gesten sind da viel musiknäher als Worte.
Zeigen statt „Zutexten“ lautet hier die Devise. Das aber ist richtig schwer, besser gesagt: Manchen fällt es leichter, manchen schwerer, je nach Temperament und Sprachtalent. Das Unterrichten ohne Worte sollte man daher immer wieder üben und bewusst praktizieren. Bianka Wüstehube hat wertvolle Vorschläge zur Methodik nonverbalen Lehren und Lernens vermittelt:1 Eine offene, zugewandte Körpersprache und ein freundlicher Blick bei der Begrüßung, bewusste Körperhaltung, Vorspielen/Nachspielen mit musikalisch-körperlicher Energie, deutliches Vormachen der Spielbewegungen, gemeinsames Musizieren – all dies und mehr ist möglich ohne Worte, nur mit Gesten. Mehr Gesten sprechen zu lassen und Lautsprache einzusparen, wo sie nicht nötig ist – dieses Unterrichtsprinzip soll hier weiterentwickelt und ansatzweise systematisiert werden.

Zur Bedeutung von Gesten2

Gesten sind absichtsvolle Bewegungen des Körpers bzw. bestimmter Körperteile, vor ­allem der Arme, Hände und des Kopfes, die Botschaften vermitteln, Gefühle ausdrücken und soziale Beziehungen stiften. Als älteste und wichtigste Ausdrucksformen des Menschen stehen Gesten dem Lernen von Musik und Instrument näher als Worte. Das Ziel: Musizieren lernen kann durch die musik­nahe, sinnliche Erscheinungsform von Gesten in mancherlei Hinsicht besser erreicht werden als durch verbale Erklärungen.
Gesten sind älter und wirken unmittelbarer als Sprache; neueren Forschungen zufolge sind Gesten „die ursprüngliche Quelle […], aus der der Reichtum und die Vielschichtigkeit menschlicher Kommunikation und Sprache flossen“.3
Gesten begleiten und unterstützen die Laut­sprache, können aber auch in Widerspruch zu ihr treten und ein Eigenleben führen. Gesten können Sprache ersetzen.
Gesten sind individuell und allgemein zugleich. Manche „Grundformen des gestischen Ausdrucks“ werden „von allen Menschen […] verstanden“ wie z. B. Zeigen, Zuwinken, Kopfnicken, die Hand wie einen Trichter ans Ohr legen.4 Andere Gesten sind historisch geprägt und von Kultur zu Kultur verschieden. Einige haben gegensätzliche Bedeutungen wie z. B. die mit Daumen und Zeigefinger geformte Kreisfigur, die in manchen Ländern Lob ausdrückt, in anderen eine wüste Beschimpfung darstellt.
Gesten im Unterricht können der Disziplinierung dienen, aber auch die sprachliche Dominanz der Lehrkraft reduzieren und das selbstständige Lernen, Beobachten und Beurteilen des Schülers oder der Schülerin fördern.
Wie in Kunst und Alltag sind Gesten im Inst­rumentalunterricht, gekonnt und maßvoll eingesetzt, eine Art „Musik für das Auge“,5 die die Klangatmosphäre und Körperaktion des Spielenden nicht unterbrechen, sondern bewahren und befördern. Der Instrumentalunterricht ist ein bevorzugter Ort einer Ästhetik kommunikativer, körperlicher und musikalisch-expressiver Gesten.

1 Bianka Wüstehube: „Ohne Worte. Zu viel Reden im ­Instrumentalunterricht raubt wertvolle Zeit für das Musizieren“, in: üben & musizieren 4/2009, S. 26-29.
2 Zum Folgenden vgl. Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek 1998, S. 80 ff. (Kapitel 3 Gesten); Christoph Wulf: „Artikel Geste“, in: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, hg. von Christoph Wulf, Weinheim 1997, S. 516-524; Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt am Main 1994.
3 Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt am Main 2009, S. 67; vgl. Michael C. Corballis: „From Hand to Mouth: The Gestural Origins of Language“, in: Language Evolution (Studies in the Evolution of Language), ed. by Morten H. Christiansen, Simon Kirby, Oxford 2003, S. 201-218.
4 Gebauer/Wulf, S. 88.
5 Johann Jacob Engel: Ideen zu einer Mimik, Zweyter Theil, Berlin 1786, S. 108.

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