Röbke, Peter
Lehrkräfte als eierlegende Wollmilchsäue?
Ein Plädoyer für das Ende der Überforderung
Der Berufsalltag von Musikschullehrkräften hält in Hinsicht der arbeitsrechtlichen Absicherung oder der tariflichen Entlohnung genügend Enttäuschungen bereit – umso mehr sollten sich MusikschullehrerInnen der herausfordernden Eigenheiten ihres Berufs bewusst sein und Stolz auf dessen Einzigartigkeit unter den pädagogischen Professionen entwickeln können.
I – Berufsalltag
Musikschullehrer oder Musikschullehrerin sein – das ist schon etwas Besonderes. Erwartet wird von der Musikschullehrkraft der professionelle Umgang mit SchülerInnen aller Alterstufen: Dass sie also mit dem Lernverhalten von Vorschul- oder Grundschulkindern ebenso zurechtkommt wie mit den Krisen von Pubertierenden, der Ungeduld erwachsener InstrumentalschülerInnen oder den Lernanstrengungen von SchülerInnen im Pensionsalter. Erwartet wird ein Unterricht, der zwischen Bewegungslehre und Kunsterschließung ebenso oszilliert wie zwischen dem Anspruch der Meisterwerke und dem Recht eines jeden Einzelnen, sich musikalisch in aller Freiheit auszudrücken. Erwartet wird ein pädagogisches Verhalten, das von Expertise wie Charisma genährt wird und sich der besonderen Verantwortung für langjährige und enge Lehrer-Schüler-Beziehungen bewusst ist und gleichzeitig den Geltungsbereich der Didaktik immer wieder überschreitet, also für Lern- und Musizieranlässe in Ensembles oder allgemeiner: in musikalischen „Communities of Practice“ sorgt.
Ganz im Ernst: Ist ein Berufsalltag, wie ich ihn im Folgenden beschreibe, zu bewältigen?
Gleichwohl: Schon in dieser Beschreibung wird tendenziell Überforderung spürbar. Und erst recht könnte der einzelnen Lehrkraft bei der Lektüre der folgenden Passage aus einem Beitrag zweier führender Vertreter des VdM die Luft weg bleiben: „Lehrkräfte an Musikschulen […] sollen in mehreren musikalischen Bereichen, in Klassik, Pop, Jazz, Folk, Neue Musik und Improvisation etc. Impulse geben. Sie sollen aber auch […] Bildungsverläufe langfristig begleiten und gestalten, somit auch Fortgeschrittene bis hin zur Studierfähigkeit unterrichten können. Sie brauchen Kompetenzen im Einzel-, Kleingruppen- und Großgruppenunterricht, in der Spitzen- und Breitenförderung, im Streicher- oder Bläserklassenunterricht, sie brauchen Fähigkeiten in Ensembleleitung, in der Frühförderung und beim Musikunterricht mit Erwachsenen und Menschen im höheren Lebensalter.“1
Ganz im Ernst: Ist ein Berufsalltag, wie ich ihn im Folgenden beschreibe, zu bewältigen? Kann ein einzelner Musikschulpädagoge – in diesem Fall ein Klarinettenlehrer – am Morgen die Bläserklasse in der Grundschule führen, in die Arbeit mit der Klasse rhythmische Schulung und Gehörbildung integrieren sowie an Stücken ebenso arbeiten wie das Improvisieren anregen, in diesem Kontext Registerproben für die Klarinettisten abhalten, anschließend mit einem Sechzehnjährigen, der sich auf die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule vorbereitet, an der Interpretation des mozartschen Klarinettenkonzerts arbeiten und mit ihm die Stimme eines bei „Jugend musiziert“ erfolgreichen Bläserquintetts, dessen Probe am folgenden Tag stattfinden wird, durchgehen, später mit einem Vierzehnjährigen in die Jazz-Improvisation oder in die Klezmer-Musik einsteigen, darauf eine Gruppe erwachsener (Wieder-) Anfänger betreuen und am frühen Abend die Probe der Blaskapelle leiten und deren Klarinettisten kurze unterstützende Unterrichtseinheiten erteilen? Das mag ein talentierter Allrounder schaffen, als Anforderungsprofil für alle Lehrkräfte taugt diese Beschreibung nicht – man darf und sollte sich entscheiden!
II – Studium
Meine Studierenden ahnen, was auf sie zukommen wird, und natürlich will sich auch meine Heimatuniversität, die Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien, nicht vorwerfen lassen, sie erkenne nicht die Zeichen der Zeit und verabsäume, ihren Studierenden das für den Berufsalltag Notwendige anzubieten: Also sind schon seit Jahren Fächer wie Improvisation, Rhythmustraining oder Elementare Musikpädagogik Bestandteile des Pflichtfachkanons, und jeder Studierende im Bachelor-Studium hat zudem einen Schwerpunkt zu belegen, um die Lehrbefähigung im zentralen künstlerischen Fach um eine zweite zu erweitern, wobei nicht nur ein zweites Instrument oder Dirigieren und Korrepetition in Frage kommen, sondern auch die vertiefende Beschäftigung mit der EMP und ein Angebot in „Improvisation und zeitgenössische Musikströmungen“ (diese beiden Schwerpunkte sind die beliebtesten) oder Fokussierungen auf Kinder- und Jugendstimmbildung, Körperarbeit bzw. „Komposition und Produktion“. Und erst recht bietet das Master-Studium mit einem eingeschränkten Pflichtfachangebot und einem reichhaltigen „Menü“ von Wahlmodulen Möglichkeiten der individuellen Profilierung: Vielfältige Formen kammermusikalischer Praxis werden ebenso angeboten wie wissenschaftliche Forschungsprojekte oder neue pädagogische Themenfelder wie die Inklusive Musikpädagogik oder Musikvermittlung/ Konzertpädagogik.
Die Studierenden der Studienrichtung Instrumental- und Gesangspädagogik (IGP) machen aber nicht nur exzessiv von den Wahlmöglichkeiten Gebrauch, belegen also nicht nur den einen vorgeschriebenen Schwerpunkt, sondern deren zwei oder drei; sie widmen sich nicht nur den verordneten zwei oder drei Modulen, sondern vier oder fünf: In einem Seminar der Studieneingangsphase, das just beim Abfassen dieses Beitrags begonnen hat, realisiere ich, dass keine/r der sechzehn SeminarteilnehmerInnen ausschließlich IGP studiert. Da wurde die Konzertfachausbildung zuvor absolviert oder sie wird parallel belegt, ich stoße auf Kombinationen von IGP und Rhythmik oder Schulmusik, auch das gleichzeitige Studium der Musikwissenschaften oder des Kulturmanagements sind im Angebot.
Das heißt aber: Nicht nur, dass im Interesse einer individuellen Profilierung und der davon erwarteten optimalen „employability“ Schwerpunkt an Schwerpunkt gereiht wird; die Studierenden greifen auch massiv auf das Wahlangebot zu, während sie sich noch in anderen Studienrichtungen befinden! Dass dieses Studienverhalten von einer gewissen Atem- und Rastlosigkeit geprägt ist und sich die Studierenden an der Grenze ihrer Belastbarkeit bewegen, das kann man sich leicht vorstellen. Allein: Im Blick auf die beruflichen Realitäten und die Anstellungserfordernisse scheint sich den Betroffenen keine Alternative anzubieten.
1 Ulrich Rademacher/Matthias Pannes: „Klingende Lebensräume. Öffentliche Musikschulen als Schlüsselorte für Bildung mit Zukunft“, in: üben & musizieren 4/2011, S. 25.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2012.