Dahlhaus, Bernd

Leidige Gewohn­heiten verändern

(Wie) Geht das im Instrumentalpädagogikberuf? Selbstmanagement für Instrumental­pädagogen – Teil 3

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 3/2014 , musikschule )) DIREKT, Seite 10

– Ein Klavierpädagoge benutzt seit 15 Jahren die gleiche Auswahl an Spielliteratur für seine Schülerinnen und Schüler.
– Eine Trompetenpädagogin spricht bei der Probenarbeit ihres Spielkreises mit gleichbleibend leiser und monotoner Stimme.
– Im Gruppenunterricht mit lärmenden Jugendlichen reagiert ein Geigenlehrer erfolglos im immer gleichen Dreischritt: ermahnen, drohen, rauswerfen.
– Ein freiberuflicher Schlagzeugpädagoge verschiebt jedes Jahr mehrmals das Erstellen seiner Steuererklärung bis auf den letzten Drücker.
– Eine angestellte Querflötenlehrerin über­nimmt fast alle an sie herangetragenen Arbeitsaufgaben in der Musikschule.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Gewohnheiten und Routinen machen einen Großteil des Denkens und Handelns in unserem Beruf aus. Viele dieser Gewohnheiten haben sich in der Praxis bewährt und sind uns häufig gar nicht mehr als solche bewusst. So haben sicherlich auch Sie Ihre persönlichen äußeren und inneren Rituale, um sich auf den Unterricht vorzubereiten, und reagieren in vielen Unterrichtssituationen quasi automatisch, weil Ihnen bestimmte Gedanken, Formulierungen oder methodische Vorgehensweisen zur zweiten Natur geworden sind.
Gewohnheiten und Routinen lassen sich allgemein beschreiben als bewährte Lösungsmuster für wiederkehrende (Anforderungs-)Situationen. Hat sich in einer vergangenen Situation zur Lösung einer Aufgabe oder eines Problems ein Gedanke bzw. eine Handlung bewährt, greife ich bei zukünftigen, gleich oder ähnlich erlebten Situationen darauf zurück. Jede weitere erfolgreiche Wiederholung festigt im Gehirn ein entsprechendes neuronales Muster, das, je stabiler es wird, desto schwieriger zu verändern ist. Diese Arbeitsweise des Gehirns ist aus biologischer Perspektive überaus sinnvoll: Das Gehirn kann, vereinfacht ausgedrückt, dadurch, dass es bei wiederkehrenden Anforderungssituationen auf vorhandene Lösungsprozeduren zurückgreift, in den Stoffwechselprozessen Energie sparen, effizienter arbeiten und so die Überlebenschancen verbessern.1
Gewohnheiten und Routinen sind allerdings janusköpfig. Einerseits entlasten sie den Handelnden, weil dieser nicht jedes Mal neu über Lösungen für Tätigkeiten nachzudenken braucht, die „normal“ und „selbstverständlich“ geworden sind. Routinen helfen, sich bei der Bewältigung von bekannten Aufgaben und Problemen (einigermaßen) sicher zu fühlen, weil klar ist, was zu tun ist. Außerdem werden wir durch unsere Gewohnheiten für andere erkennbar und im positiven Sinne berechenbar. Allerdings können im subjektiven Erleben Gewohnheiten ihre Nützlichkeit auch verlieren. Dies ist dann der Fall, wenn sich zwischenzeitlich die äußeren Rahmenbedingungen der Situation oder aufgrund von Lernerfahrungen (in anderen Kontexten) die eigenen Werte- und Bedürfnisprioritäten geändert haben. Die Situation wird nun anders erlebt und bewertet, bisher bewährte Gedanken, Gefühle oder Handlungen passen nicht mehr, man gerät an seine Grenzen. Und dem Hirnforscher Gerald Hüther zufolge sei dies auch gut so, denn das Gehirn sei von Natur aus nicht zum Auswendiglernen angelegt, sondern primär ein hervorragend geeignetes Instrument zur Bewältigung von Problemen.2 In diesem Sinne können also leidige Gewohnheiten – so belastend sie mög­licherweise zunächst für den Betreffenden sind – auch als Anlass zum Umbau von Nervenverschaltungen im Gehirn und damit insgesamt zur eigenen Weiterentwicklung angesehen werden.

Sich auf eine gute Art ­verändern

Viele Menschen gehen davon aus, dass eine gelingende Veränderung einer leidigen Gewohnheit in der Regel zuallererst eine Frage des „richtigen“ Sachwissens, der „richtigen“ Motivation sowie einer unbeugsamen Selbstdisziplin und Ausdauer ist.3 Ohne Zweifel können diese Aspekte sehr wichtig sein. Allerdings zeigen viele gescheiterte Veränderungsvorhaben bei näherer Betrachtung, dass ausschließlich vernunftgeleitete Vorstellungen darüber, wie eine Veränderung zielgerichtet und zuverlässig zu erreichen sei, nicht ausreichen. Meist werden dabei nämlich die Persönlichkeitsanteile, die andere, häufig widersprüchliche Bedürfnisse repräsentieren, nicht oder nicht genügend beachtet und deshalb nicht in den Veränderungsprozess integriert.4
Im Folgenden möchte ich anhand des zwei­ten der eingangs genannten Beispiele verschiedene Ideen vorstellen, die jeweils als ein erster Schritt bei einem Veränderungsvorhaben genutzt werden können. Dabei sei in dem Beispiel vorausgesetzt, dass die Trompetenlehrerin – nennen wir sie Frau Müller – sich ihrer Art zu sprechen bewusst geworden ist, möglicherweise dazu entsprechende negative Rückmeldungen bekommen hat und ihre als einschränkend und ungünstig bewertete Sprechgewohnheit auch wirklich ändern möchte.

1. Verschiedene Perspektiven nutzen
Beim menschlichen Sehen treffen auf beide Augen jeweils unterschiedliche Sinnesreize. Im Unterschied zum Sehen mit nur einem Auge ermöglichen die zusätzlichen Informationen des zweiten Auges dem Betrachter eine gänzlich neue Sehqualität, nämlich die Tiefenschärfe, die erst eine Orientierung im Raum ermöglicht. Analog kann auch bei dem Blick auf die leidige Gewohnheit eine veränderte Perspektive neue, bisher nicht zugängliche Informationen offenbaren, die für einen guten Veränderungsprozess hilfreich sein können.
So könnte sich Frau Müller fragen – und zwar ohne daraus vorschnell Handlungskonsequenzen zu ziehen:
– „In welchem Situationszusammenhang ist meine Art des Sprechens eine Kompetenz?“ > in lautstärkeempfindlichen Kontexten, beispielsweise bei musiktherapeutisch geführten Klangreisen, in kleinen Räumen…
– „Was ist die gute Absicht hinter dem Verhalten?“ > physische Energie sparen, nicht auffallen wollen, sich verstecken = schützen…
– „Mit welchem anderen Verhalten könnte ich die gleiche Absicht verwirklichen?“
> unsichtbare Schutzhülle imaginieren; positive Referenzerfahrungen aus anderen Kontexten verankern, Souveränität in Sprache, Mimik und Gestik lernen…
Diese Art des Perspektivwechsels bewirkt häufig, dass es dem Betreffenden leichter fällt, zunächst die leidige Gewohnheit annehmen zu können und nicht mehr mit ihr zu hadern. In vielen Veränderungsprozessen scheint dies eine Voraussetzung für ein Gelingen zu sein, sodass erste Handlungsideen entstehen können.

2. Gelungene Lehr-/Lernsituationen aus der eigenen Unterrichtstätigkeit als Informationsquelle oder Modell für eigenes (Um-)Lernen nutzen
Als InstrumentalpädagogInnen müssen wir aufgrund unseres Selbstverständnisses davon ausgehen, dass sich Menschen sehr wohl absichtsvoll und auf eine für sie jeweils gute Art verändern können. Andernfalls könnten wir unseren Beruf nicht ausüben. Als Lehrkräfte haben wir vielfach SchülerInnen in der Veränderung ihrer musizierbezogenen Gewohnheiten angeleitet.5 In unserer Art zu unterrichten sind also hilfreiche Informationen darüber enthalten, wie Veränderungen (bei anderen) gelingen können.
In diesem Sinne könnte Frau Müller ihren Unterricht, oder genauer: ihren Unterrichtsstil, als Informationsquelle nutzen, indem sie sich fragt:
– „Welchen Grundannahmen bin ich gefolgt, wovon war ich überzeugt, was habe ich gedacht, getan, gesprochen, als Schüler X letzten Monat erfolgreich Y (um)gelernt hat?“ > großes inneres Zutrauen haben, Zeit lassen, anders/langsam/bildhaft erklären, ausprobieren lassen, von Vorbildern erzählen, auch bei Schwierigkeiten im guten inneren Zustand bleiben…
Die Art des Unterrichtens ist ein Spiegel der Vorstellungen über gutes Lernen und gelingende Veränderung. In diesem Sinne zeichnen sich „erfolgreiche“ PädagogInnen (vor allem in der musikalischen Breiten­arbeit) aus durch eine hohe Reflexionskompetenz ihrer pädagogisch-didaktischen Gewohnheiten sowie einer ausgeprägten Bereitschaft, diese zu verändern, wenn es dem guten Lernen der SchülerInnen dient.

3. Veränderungserfahrungen aus der ei­genen (musikalischen) Lernbiografie als Ressource nutzen6
Ein Instrumentalpädagoge verfügt vor dem Beginn seiner Berufstätigkeit über schätzungsweise 15 Jahre an musikalischen und instrumentalen Lernerfahrungen als Schüler und Studierender. Sehr wahrscheinlich hat er in dieser Zeit auch Lernerfahrungen gesammelt, die sich als ein Verändern von Gewohnheiten beschreiben lassen wie beispielsweise die Veränderung von Bewegungsmustern (Ansatz, Spieltechnik), von Übegewohnheiten oder Interpretationskonzepten. Auch ein Lehrerwechsel oder die Anschaffung eines neuen Instruments sind Ereignisse, bei denen ein Musizierender Veränderungserfahrungen macht, auch wenn er diese Veränderungen möglicherweise nicht immer selbst initiiert hat.
Die Idee ist nun, diese Veränderungserfahrungen detailliert auf ihre äußeren und inneren Umstände, auf Kontextbedingungen und vor allem auf innere Erlebensmodalitäten zu untersuchen. Absicht dabei ist es, möglichst genau die Musterelemente des inneren Erlebens zu beschreiben, die eine gute und erfolgreiche Lernerfahrung ausmachen, anders ausgedrückt, welchen äußeren und inneren Zustand der Betreffende braucht, um auf eine für ihn gute Art lernen (= sich verändern) zu können.
Diese inneren Qualitäten sind natürlich höchst individuell. Es sind die Wahrnehmungen auf den Sinneskanälen, bestimmte Körperempfindungen (Puls, Atmung, Tonus, Haltung, Temperaturempfinden), möglicherweise eine innere Stimme oder Imaginationen und Weiteres.
In unserem Beispiel könnte Frau Müller herausfinden, dass für sie eine gute Lern­erfahrung mit einem Gefühl von innerer Weite verbunden ist, ihr Körper sich dabei gelöst anfühlt und aufgerichtet ist und ihre visuelle Wahrnehmung hauptsächlich von hellen und warmen Farben erfüllt ist. Damit einher geht möglicherweise ein starkes Gefühl des Verbundenseins mit dem Instrument oder der Musik oder ein intensives Sinnerleben. So könnte sich Frau Müller nun fragen:
– „Wie könnte es mir gelingen, diese Musterelemente für mein neues gewünschtes Verhalten zu nutzen?“

4. Körperarbeit zur ganzheitlichen Veränderung von Denk-, Fühl- und Handlungsmustern nutzen
Leidige Gewohnheiten schränken die Entfaltung des eigenen Potenzials ein. Als Ergänzung zu den bisher beschriebenen, direkt auf das Veränderungsthema bezogenen Vorgehensweisen bieten Verfahren der veränderungsorientierten Körperarbeit die Möglichkeit einer grundsätzlichen allgemeinen persönlichen Weiterentwicklung. Bewährte Verfahren wie Alexandertechnik oder Feldenkrais haben den großen Vorteil, dass sie nicht nur ein gelöstes, lebendig(er)es Musizieren sowie die Gesund- und Arbeitskrafterhaltung fördern, sondern in einem geistig-seelisch-körperlich ganzheitlichen Sinne fundamental zur eigenen Potenzialentfaltung beitragen.

Schwierig – und machbar

Die Veränderung von leidigen Gewohnheiten wird meist als schwierig erlebt, als sehr schwierig – und sie ist machbar. Wir können Umbauprozesse der neuronalen Muster im Gehirn initiieren und beeinflussen, je nachdem, wie wir unser Gehirn benutzen. Und wenn wir von Schülern erwarten, dass sie ihr Gehirn sinnvoll nutzen, sollten wir aus ­einer künstlerisch-pädagogischen Haltung heraus auch hierin Vorbild für sie sein. Wen kennen Sie, der ein gutes Vorbild darin ist, ungeliebte Gewohnheiten zu verändern?

1 vgl. Gerald Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Göttingen 32002.
2 s. hierzu auch die Lerntheorie von Jean Piaget (1970), deren Erweiterung durch Humberto Maturana und Francisco Varela erläutert wird in: Fritz B. Simon: Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus, Heidelberg 2006.
3 vgl. die einführenden Überlegungen zum Selbstmanagement für Instrumentalpädagogen „Der Musiklehrerberuf als Passion?!“ in: musikschule )) DIREKT. Supplement zu üben & musizieren 6/2013, S. 7-9.
4 Häufig werden solche Erlebensweisen als ­„Inne­re Zwickmühle“ beschrieben; s. hierzu den Beitrag „Plädoyer für die Zwickmühle“ in: musik­schule )) DIREKT. Supplement zu üben & musizieren 1/2014, S. 6-8.
5 Eine grundlegende Darstellung einer der „in­tentionale[n] Grundideen musikpädagogischen Handelns“, nämlich „Musik-Lernen ermöglichen“, ist zu finden in: Peter W. Schatt: Einführung in die Musikpädagogik, Darmstadt 2007, S. 32-39.
6 vgl. den Abschnitt „Erkundung der eigenen Lern-Biografie zur Reflexion pädagogischen Handelns“ von Sibylle Cada in ihrem Beitrag „Resonanz und Dialog. Systemisches Denken und Handeln in der Instrumentalpädagogik“, in: Frauke Grimmer/ Wolf­gang Lessing (Hg.): Künstler als Pädagogen. Grundlagen und Bedingungen einer verantwortungsvollen Instrumentaldidaktik, Mainz 2008, S. 107-116.