Gutzeit, Reinhart von / Andreas Doerne / Ulrich Rademacher

Leistung ohne Druck?

Leistungsüberprüfung – ein allgegenwärtiges Phänomen mit ­Risiken und Nebenwirkungen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2016 , Seite 18

Sind Leistungsüberprüfungen im Instrumental­unterricht sinnvoll? Welche Auswirkungen haben sie auf die Motivation der Schülerinnen und Schüler? Und wie müsste oder sollte eine solche Überprüfung aussehen? Reinhart von Gutzeit im Gespräch mit Ulrich Rademacher, Leiter der Westfälischen Schule für Musik in Münster, Professor für Liedbegleitung an der Kölner Musikhochschule und Vorsitzender des Verbands deutscher Musikschulen, und And­reas Doerne, Professor für Musikpädagogik an der Hochschule für Musik Freiburg.

von Gutzeit: Ulrich Mahlert beschreibt in seinem Beitrag zu dieser Ausgabe Leistung ambivalent: einerseits als menschliches Grundbedürfnis mit hohem „Befriedigungs­potenzial“, andererseits als unsere Peitsche, als Stressfaktor und ständige Bedrohung unseres Seelenfriedens. Teilt ihr diese Betrachtung des „Phänomens Leistung“ als ein janusköpfiges Wesen?
Doerne: Ja, das sehe ich auch so: Ich denke, wir müssen unterscheiden zwischen dem anthropologisch begründeten Bedürfnis danach, etwas wirklich gut zu machen, weil mir die Erfahrung, etwas zu können, ein Gefühl von tiefer Befriedigung, Freude und Selbstwirksamkeit beschert, und jenem nur schwer anthropologisch zu begründenden Leistungs­überprüfungswahn, der fetisch­artig unsere Gesellschaft bis in alle Nischen hinein durchdringt. Ersteres ist in meinen Augen etwas hochgradig Konstruktives und Wichtiges, Letzteres etwas zutiefst Destruktives und Abschaffenswertes.
von Gutzeit: Das heißt also, dass die Ambivalenz des Leistungsdenkens auch oder sogar besonders im künstlerischen Feld zum Tragen kommt?
Rademacher: Auf der einen Seite entzieht sich jede künstlerische Äußerung, die ihrem Wesen nach genauso „heilig“, einmalig und unverwechselbar ist wie jedes musizierende Kind, einer Bewertung, Benotung und Einordnung nach Punkten. Auf der anderen Seite liegt es genauso in unserem Wesen, in unserem Streben nach Erkenntnis und Vergleichbarkeit, aber auch in der kindlichen oder jugendlichen Spiel- und Sport-Lust, sich messen zu wollen. Nicht nur im Sport. Das ist nach meiner Überzeugung solange gesund, wie das Selbstwertgefühl, das Geliebt- und Geachtet-Werden so selbstverständlich und unverrückbar verankert ist, dass es nicht vom Erfolg bei einem Wettbewerb oder bei einer Prüfung abhängt.
Doerne: Das Musizieren ist aber ein Kooperationsspiel und kein Wettkampfspiel. Im Gegensatz zu anderen regelgebundenen Spielformen wie Gesellschaftsspielen und den meisten Sportarten geht es beim Musizieren nicht ums Gewinnen. Im Ensemblespiel ist das A und O die Qualität der Zusammen­arbeit, die dabei entstehende Gemeinsamkeit, das konstruktive verbale und musikalische Kommunizieren. Beim solistischen Spiel steht ebenfalls die Übereinstimmung, Abstimmung und „Zusammenarbeit“ mit dem Instrument, mit der Komposi­tion sowie den vielfältigen musikalischen Ausdrucks­bestrebungen und menschlichen Potenzialen im Zent­rum. Das Kompetitive, das allen Wett­bewerben und den meisten Formen von Leistungsbewertungen zugrunde liegt, ist dem Musizieren als Spiel wesensfremd! Das schließt den Leistungsbegriff selbstverständlich nicht aus. Nur liegt die Motivation zur Leistung innerhalb eines kooperativen Geschehens wie dem Musizieren eben nicht darin, andere im Wettkampf zu schlagen, der „Beste“ zu sein oder eine tolle Note von einer Jury zu bekommen.
von Gutzeit: Nach Jahrzehnten der Erfahrung mit „Jugend musiziert“ und anderen Wettbewerben bin ich gerne bei diesem heißen Thema der Advocatus Diaboli – der Anwalt der so oft verteufelten Wettbewerbe. Natürlich wissen wir, dass Wettbewerbsergebnisse nicht einmal in der Theorie „objektiv“ sein können und die Umstände der Entscheidungsfindung, vor allem, wenn es sehr hoch hinauf geht, oft fragwürdig sind. Aber ich weiß auch, dass viele inzwischen etablierte Musikerinnen und Musiker ihre mehrfache Teilnahme bei „Jugend musiziert“ als den entscheidenden Antrieb in ihrer Kindheit und Jugend beschreiben. Wollen wir darauf verzichten?
Auch kann ich mir nur schwer vorstellen, wie unser Musikleben funktionieren würde, hätten junge Musiker nicht die Chance, bei Wettbewerben auf sich aufmerksam zu machen. Und schließlich: Was würden wir denn sagen, wenn Studienplätze an Musikhochschulen oder später lukrative Positionen im Musik­leben – Orchesterstellen oder Professuren – nicht öffentlich ausgeschrieben und nach einem hoffentlich fairen Wettbewerb, sondern irgendwie anders vergeben würden?
Ich glaube, dass wir dem tief in uns verankerten Wett­bewerbsgedanken auch in der Musik nicht entkommen können und habe es immer als unsere Aufgabe betrachtet, künstlerisch und pädagogisch sinnvolle und vertretbare Wettbewerbsmodalitäten zu entwickeln.

Nicht der konkurrenzbehaftete ­Wettbewerb treibt uns Menschen unabänderlich vor sich her, sondern wir haben die Wahl, uns aktiv für oder eben auch gegen ihn zu entscheiden.

Doerne: Ich kann gut nachvollziehen, was ge­meint ist, sehe aber tatsächlich einen grundsätzlichen Irrtum in der Annahme, der Wettbewerbsgedanke sei als ein Grundbedürfnis wie Essen, Schlafen, Wohnen, Sicherheit und Sexualität tief in uns Menschen verankert. Das Gegenteil ist der Fall: Es besteht ein Grundbedürfnis nach emotionaler und sozialer Beziehung, nach Gemeinsamkeit, Gemein­schaft und bestimmten Formen selbstgewählter und konstruktiver Zusammenarbeit. Dieses kooperative Potenzial gilt es, gerade aus pädagogischer Sicht, zu fördern.
Die Tatsache, dass uns der Wettbewerbs­gedanke wesenhaft eingeschrieben zu sein scheint, ist nichts naturhaft Gegebenes, sondern etwas, was wir selbst hervorbringen. Wir selbst entscheiden darüber, ob wir uns ihm andienen und ausliefern oder aber unsere Energie in die Herstellung intelligenter Formen von Kooperation investieren wollen. Und in diesem zugegebenermaßen weiten gedanklichen Zusammenhang sollte man, so finde ich, das Thema Wettbewerb und Konkurrenz sehen: Nicht der konkurrenzbehaftete Wettbewerb treibt uns Menschen unabänderlich vor sich her, sondern wir haben die Wahl, uns aktiv für oder eben auch gegen ihn zu entscheiden.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2016.