Herrmann, Traudl

Licht auf Bach – Song of Peace

Meditation über das Prélude in G-Dur BWV 1007 von J. S. Bach für 2 Violoncelli oder Violine / Viola und Violoncello oder tiefe Stimme und Violoncello

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Ponticello Edition, Mainz 2020
erschienen in: üben & musizieren 6/2020 , Seite 63

Ave Maria, 2.0? Ohne Zweifel stand Charles Gounods berühmte Beimengung zu Bachs C-Dur- Präludium aus dem „Wohltemperierten Klavier“ hier Pate: Traudl Herrmann stellt sich bewusst in diese Tradition, indem sie ihr Licht auf Bach als „Meditation über …“ charakterisiert. In der Tat repräsentiert der Eröffnungssatz aus Bachs erster Cellosuite denselben Prélude-Typus wie das vielgeliebte Klavier Pendant: Hier wie dort ein in Sechzehntel-Arpeggien voranschreitendes Geschehen, dessen latente – gleichsam subkutane – Melodik förmlich auf Erweckung wartet.
Traudl Herrmann geht allerdings insofern deutlich weiter als ehedem Gounod, als sie zur inneren Melodie des Prélude eine kontrapunktierende Linie von hoher Kantabilität ersinnt. Auch stimmführungstechnisch passt alles makellos zusammen, allenfalls mag man bedauern, dass zu den beiden letzten dominantischen Takten (T. 37/38), in denen Bach über dem Orgelpunkt D durch chromatischen Aufgang eine große harmonische Spannung erzeugt, Herrmanns Melodie eigentlich zu früh in die Grundtonart G-Dur zurückgleitet.
Indes: eine seltsam aus der Zeit fallende Publikation! Über die Mainzer Cellistin Traudl Herrmann erfahren wir, dass sie neben ihrer Tätigkeit als gefragte Kammermusikerin – unter anderem im Amonta Quartett – und Lehrerin auch im Bereich der improvisierten Musik zu Hause ist: Cello ebenso wie Gotische Harfe spielend und dazu singend. Möglicherweise ist Licht auf Bach (nicht anders als Gounods Urversion übrigens) zunächst auf improvisatorische Weise entstanden? Der weit ausschwingenden Melodie eignet in jedem Fall auch ein streicherischer Gestus.
In der Celloversion ist sie für fortgeschrittene SchülerInnen gut spielbar: Sie erhebt sich bis zum h’, eine gute Beherrschung der 6. Lage wäre daher empfehlenswert. Die beigefügten Versionen für Violine und Viola sind technisch weniger anspruchsvoll, der Tonumfang ist hier in den jeweiligen 1. Lagen gut erreichbar.
Die Idee, zu einer Komposition Bachs eine „schöne Melodie“ hinzuzuerfinden, enthüllt eine geradezu entwaffnende Naivität im Umgang mit (zumal Barock-)Musik. Licht auf Bach versetzt uns auf anheimelnde Weise zurück in eine Zeit, da keinerlei aufführungspraktische Skrupel unseren Zugang zum Altmeister belasteten.
Nun hat die Autorin, auch hierin Gounod folgend, noch eine weitere, quasi-religiöse Schicht hinzugefügt, die man erst einmal verkraften muss: In der Vokalversion mutiert Licht auf Bach zum Song of Peace. Hier verlassen wir die Sphäre der Romantik und finden uns wieder in der Kirchentagsästhetik der 80er Jahre. Gleichwohl: Einem so beherzten Zugriff auf unverstellte Schönheit, wie ihn Traudl Herrmann hier vorlebt, mag man kaum zürnen.
Gerhard Anders