Berg, Ivo I. / Hannah Lindmaier

„Lieder und Tänze aus aller Welt?“

Das Spielrepertoire von Instrumentalschulen aus transkultureller Perspektive

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2024 , Seite 22

Ein abwechslungsreiches und musikalisch vielfältiges Repertoire ist ein Qualitätsmerkmal guten Unterrichts. Instrumentalschulen greifen dabei auf (Volks-)Musik und (Kinder-)Lieder aus verschiedenen Ländern und ­kulturellen Zusammenhängen zurück und erweitern so potenziell die Hör- und Musiziergewohnheiten von SchülerInnen. Aber was ist zu ­bedenken, wenn man sich im Unterricht einer Musik bedient, zu deren Spiel­weise, ­kulturellem Kontext und Tradition kein unmittelbarer Bezug besteht?

„I remember one day being in a music history class and a white woman was the teacher. She was up in front of the class saying that the reason black people played the blues was because they were poor and had to pick cotton. So they were sad and that’s where the blues came from, their sadness. My hand went up in a flash and I stood up and said, ‚I’m from East St. Louis and my father is rich, he’s a dentist, and I play the blues. My father didn’t never pick no cotton and I didn’t wake up this morning sad and start playing the blues. There’s more to it than that.‘“1
Zunächst scheint es, als ob sich der Jazztrompeter Miles Davis (1926–1991) in dieser autobiografischen Anekdote vor allem gegen einen kulturellen Essenzialismus zu Wehr setzt: der Vorstellung also, dass (Musik-)Kulturen als ein abgeschlossenes Ganzes mit einem unveränderlichen, „authentischen“ Kern zu betrachten und an eine bestimmte ethnische und soziale Herkunft geknüpft sind. In seiner Reaktion dekonstruiert Davis dieses vielfach reproduzierte Bild des Blues und entlarvt es als eine machtbesetzte und tendenziell erniedrigende Zuschreibung einer weißen Musikgeschichtsschreibung.
Davis setzt diesem Bild eine dynamische Auffassung der Spielkulturen des Blues entgegen, was er an anderen Stellen seiner Autobiografie deutlich macht, indem er immer wieder auf stilistische Weiterentwicklungen Bezug nimmt. Allerdings argumentiert auch er in den Kategorien eines „echten“ und eines – seiner Meinung nach zumeist durch weiße Musiker lediglich imitierten – „unechten“ Blues. In der Anekdote ist also neben der Frage, wer in legitimer Weise eine Musiziertradition vertreten und über sie sprechen kann, gleichzeitig die Suche nach einer wie auch immer zu bestimmenden Authentizität einer musikalischen Praxis anwesend.

Interkulturelle ­Musikpädagogik

Davis, der in den 1940er Jahren zeitweise an der Juilliard School of Music studierte, berichtet hier von einer musikpädagogischen Vermittlungssituation. Die aufgeworfenen Fragen nach Authentizität und Legitimität, die Problematiken von Zuschreibung, kulturellem „Othering“, „kultureller Aneignung“ und den zugrundeliegenden Kulturbegriffen reichen in ihrer Brisanz und Tragweite unmittelbar in die Musikpädagogik hinein.2 Sollten daher diese Themen – die sicherlich keine einfachen und eindeutigen Antworten erwarten lassen – nicht auch verhandelt werden, wenn wir im klassischen Instrumentalunterricht einen Blues spielen möchten, wenn „Lieder und Tänze aus aller Welt“ wie selbstverständlich als Spielrepertoire in Instrumentalschulen auftauchen?
Im Gegensatz zur Schulmusik, die seit den 1980er Jahren hierzu einen zunehmend differenzierten Diskurs fortschreibt, scheint die Perspektive der Interkulturellen Musikpädagogik bislang in der Instrumentalpädagogik noch wenig Fuß gefasst zu haben. Ausgangspunkte der Interkulturellen Musikpädagogik, die einen transkulturellen, nicht-essenzialistischen Kulturbegriff vertritt, sind einerseits der Bezug auf die zunehmend durch Migra­tion geprägte Schülerschaft und andererseits die Zuwendung zu Musik unterschiedlichster Herkunft als eigenes Lernfeld.3
Warum diese Themen in der Instrumentalpädagogik nicht gleichermaßen vertreten sind, mag an der spezifischen Perspektive des Fachs auf die Vermittlung von Musik liegen, wie er sich gerade im Blick auf Instrumentalschulen manifestiert: Gedacht wird vom Ins­trument aus. Die Vermittlung von interpretatorischen und spieltechnischen Kompetenzen am Instrument stellt zumeist das zentrale Lernfeld dar.4 Und auch die Repertoirefrage ergibt sich in der Regel im Ausgang von den Möglichkeiten und Traditionen eben dieses Instruments: Wer Blockflöte lernt, stellt meist erst im Lauf der langjährigen Beschäftigung fest, dass auf diesem Instrument vornehmlich Barockmusik gespielt wird und ein substanzielles Repertoire aus dem 19. Jahrhundert weitgehend fehlt. Wer Klarinette lernt, wird in Bezug auf diese Epoche zwar glücklicher sein, der Zugang zu mittelalterlicher Musik wird sich aber als weniger unmittelbar herausstellen. Klassische GitarristInnen wiederum mögen mit ihrem vermeintlich begrenzten (klassischen) Repertoire hadern, aber gleichzeitig bietet die Gitarre vielfältige musikalische und spieltechnische Brückenschläge zum Flamenco, Tango oder Blues.
Instrumente tragen also in sich bestimmte musikkulturelle Zusammenhänge, die ihrer Vermittlung bereits vorausgesetzt sind und die zuweilen („Freiheit für die Blockflöte!“5) als einschränkend empfunden werden. AdressatInnen von Instrumentalunterricht werden also vornehmlich in die musikalischen Welten des gewählten Instruments eingeführt. Auch wenn dabei selbstverständlich individuelle Vorlieben berücksichtigt werden, steht die Frage nach den diversen (musik-)kulturellen Prägungen der SchülerInnen bislang noch weniger im Zentrum des Unterrichts.
Doch gerade diese Perspektivität, dieses Brennglas des Instruments birgt spezifische Potenziale und Möglichkeiten der Beschäftigung mit verschiedenen Musikkulturen und musikalischen Stilen. Zunächst zeigen die obigen Beispiele bereits, dass Instrumente ohnehin in mehreren kulturellen Zusammenhängen – seien es Epochen, Traditionen, Länder oder Stile – beheimatet sind. Instrumente – hier eher im Sinn von grundlegenden Ins­trumentenarten – könnten somit als potenzielle „Schnittstellen“ (Irmgard Merkt) zwischen den kulturellen Verortungen aufgefasst werden. Ihre unterschiedliche Spielweise, ihre je spezifische Klangästhetik und baulichen Eigenschaften, auch ihre jeweiligen didaktischen Kontexte (etwa zwischen oraler oder schriftlicher Vermittlung) wären unmittelbar vom je eigenen Instrument aus zu erkunden.6

1 Davis, Miles/Troupe, Quincy: Miles: The Autobiography, New York 1989, S. 59.
2 Gute Zusammenfassungen zu diesen Themen finden sich in: www.vielfalt-mediathek.de/othering (Stand: 16.11.2023); Hömberg, Tobias: „Interkulturelles Musizieren als kulturelle Aneignung? Musikpädagogische Argumentationen zur Kritik an Cultural Appropriation“, in: Henning, Heike/Koch, Kai (Hg.): Musikgeragogik und interkulturelles Musizieren, Münster 2022, S. 181-205; Nünning, Ansgar: „Vielfalt der Kulturbegriffe“, www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/59917/vielfalt-der-kulturbegriffe (Stand: 16.11.2023).
3 Ott, Thomas: „Konzeptionelle Überlegungen zum interkulturellen Musikunterricht“, in: Niessen, Anne/Lehmann-Wermser, Andreas (Hg.): Aspekte Interkultureller Musikpädagogik. Ein Studienbuch, Augsburg 2012, S. 115.
4 vgl. Busch, Barbara/Metzger, Barbara: „Inhalte des Instrumentalunterrichts“, in: Busch, Barbara (Hg.): Grundwissen Instrumentalpädagogik. Ein Wegweiser durch Studium und Beruf, Wiesbaden 2016, S. 233.
5 so der Titel von Workshops der Band Wildes Holz.
6 vgl. hierzu Lessing, Wolfgang: „Von Kernen und Rändern. Überlegungen zum Ort der Instrumentalpädagogik“, in: Rüdiger, Wolfgang (Hg.): Instrumentalpädagogik – wie und wozu? Entwicklungsstand und Perspektiven, Mainz 2018, S. 41 f.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2024.