Kulenkampff, Elke Johanna

Losgelöst vom Notentext

Die Streicherakademie Hannover geht neue Wege

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 2/2009 , Seite 36

Seit Dezember 2003 gibt es die Streicherakademie Hannover, eine Institution für Kinder und Jugendliche, die eine professionelle Ausbildung auf Streichinstrumenten anstreben. Ihr ist ein gemeinnütziger Verein angeschlossen, der unter anderem Stipendien an hochbegabte Kinder vergibt. Zum ersten Mal seit ihrer Gründung veranstaltete die Streicherakademie nun einen für alle Interessierten offenen Wochenendworkshop. Die Hürde zur Zulassung war allerdings nicht ohne Einsatz zu nehmen, denn alle TeilnehmerInnen mit Ausnahme der Kammermusikensembles sollten ihr Programm auswendig beherrschen.
Die Ausschreibung wies unterschiedliche Niveaus aus mit dazugehörigen Programmen – vom Anfängerstatus bis zu weit Fortgeschrittenen, mit denen Kammermusikgruppen gebildet wurden. In diese Niveaus galt es sich einzuordnen und die zugeschickten Stimmen zu erarbeiten. Sage und schreibe 67 TeilnehmerInnen hatten sich dies zugetraut und beworben. Die meisten kamen aus Hannover und Umgebung, einige hatten sich aus Nordrhein-Westfalen eingefunden. So entstanden zwei Orchester, drei Streichquartette und ein Streichtrio.
Ziel des Workshops war nicht die Förderung an der jeweiligen Leistungsgrenze. Es ging vielmehr um die Verwirklichung musikalischer Parameter, das Einswerden mit der Musik und das Erlebnis des von den spieltech­nischen Anforderungen Losgelöstseins. Aus diesem Flow-Erlebnis sollten die TeilnehmerInnen Motivation für die nächsten Monate des täglichen Übens zu Hause schöpfen.
Begonnen und abgeschlossen wurden die ­Arbeitstage im Plenum. Marie-Luise Jauch, Gründerin und Leiterin der Streicherakademie Hannover, demonstrierte eindrucksvoll die Unverzichtbarkeit von Regeln beim gemeinsamen Musizieren. Nachdem beispielhaft klar wurde, dass mit geschlossenen Augen kein gemeinsamer Anfang gelingt, erhielt die für das Orchesterspiel außergewöhnliche Forderung nach auswendiger Beherrschung der Stimmen in der Ausschreibung einen klareren Hintergrund. Spontane Reaktionsbereitschaft setzt absolute Loslösung vom Notentext voraus.
Wer sich zum Ziel setzt, im Orchesterkonzert aufzutreten, muss sich an Verabredungen halten. Das fängt schon an, ehe es anfängt: Die Geigenden stehen, das Instrument hängt locker vom Brustbein abwärts, der Bogenarm ist gesenkt. Die Dirigentin hebt den Stock: Alle nehmen eine adäquate Körperspannung ein, die Geigen wandern ans Kinn, der Bogen ruht auf der Saite – daraus entsteht der konzentrierte gemeinsame Anfang. Auch die 21 Cellistinnen und Cellisten mit ihren Viertel-, halben und ganzen Celli erfahren knapp und anschaulich, was zu tun ist, um beim ersten Zeichen in voller Präsenz einzusetzen. Dabei war Wachheit nach außen gefordert bei gleichzeitiger technischer und musikalischer Beherrschung der eigenen Stimme.
Zunehmend wurde das hinter dem Workshop stehende Konzept klar. Nicht an der spieltechnischen Leistungsobergrenze zu fordern und zu fördern, sondern auf einer spieltechnisch gut zu bewältigenden Ebene all die anderen Anforderungen, die eine Aufführung zu einer gelungenen Interpretation machen, ebenfalls zu realisieren. Eine vom Notentext unabhängige, ganz auf die Musik und die Dirigentin konzentrierte Spielweise ließ jeden Einzelnen nicht nur von der eigenen Stimme, sondern von der ganzen Partitur tief durchdrungen sein.
67 Streichinstrumente müssen richtig gestimmt sein: Drei bis vier MusikerInnen bringen dieses Kunststück in kurzer Zeit fertig. Eine solch straffe Organisation entlastet die Dirigentin und ist sehr befriedigend für die erwartungsvollen InstrumentalistInnen. Alles geht zügig und wohlgeordnet in freudiger Spannung voran. Das erste gemeinsame Stück ist Old Mac Donald has a farm. Die meisten können es auswendig, aber vor jeder Gruppe steht auch eine Lehrerin und zeigt die Töne per Handzeichen.
In der Streicherakademie Hannover kommen die teilweise sehr jungen Anfänger übers Singen zum Instrumentalspiel. Es sind Kinder im Vorschul- und frühen Schulalter. Ihr Sinn für Tonhöhen, für Melodieführung, ihre Fähigkeit, Intervalle wiederzugeben, und ihr Verständnis für die lineare und harmonische Bauweise der Musik werden geschult mit Hilfe der Solmisation. Diese wird konsequent auch für das Instrumentalspiel angewendet. Mit dieser Methode ist die Streicherakademie seit Jahren erfolgreich in Grundschulen unterwegs mit einem Projekt, das den Titel „Lernen durch Musik und Bewegung“ trägt.
Im Bow rock treffen sich unterschiedliche Spielniveaus. Das Stück lebt von seiner reizvollen rhythmischen Gestalt. Welch ein Spaß, wenn zwei Takte lang die beiden Viertel der Celli knackig beantwortet werden von den dritten Geigen: „Rums, rums“. Auch die ­„easy player“ kommen so in den Genuss, in einen vollen Streicherklang eingebettet zu sein und musikalisch wichtige Funktionen zu übernehmen.
Nach der Eröffnungsphase gehen alle Ensembles in verschiedene Räume, um dort an ihrem Programm zu arbeiten. Möglichst fle­xibel Arbeits- und Ruhephasen verbindend hielt sich die Dozenten-Crew an das Motto: „Wer nicht mehr kann, geht in den Spieleraum!“ So organisch kann man mit der unterschiedlichen Beschaffenheit von Durchhaltevermögen umgehen!
Sonntag, 16.45 Uhr: Aufbau in der Turnhalle, die sich mit den Eltern und Freunden der Streicherakademie füllt. Das einstündige Konzert ist der Beweis: Disziplin und Spielfreude, gute Vorbereitung und die Präsenz des Augenblicks ermöglichen ein für alle Beteiligten musikalisch nachhaltiges Erlebnis.

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