Gershwin, George

Lullaby für ­Streichquartett

hg. von Wolfgang Birtel, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2013
erschienen in: üben & musizieren 6/2013 , Seite 59

Denkt man an Gershwin, denkt man spontan an die Rhapsody in Blue, an Ein Amerikaner in Paris, an das Klavierkonzert oder die Oper Porgy und Bess, also kaum mehr als an drei bis vier Werke. Gershwins Œuvre ist, von den unbekannt gebliebenen, zahlreichen Revue- und Operettenmusiken abgesehen, in der Tat nicht sonderlich groß. Neben Stücken für Klavier existiert außer der Short Story für Violine und Klavier nur noch der Streichquartett-Satz mit dem Titel Lullaby. Und selbst der geht auf ein Klavierstück zurück, das Gershwin 1919 während seiner Studien in Komposition und Kontrapunkt bei seinem Lehrer Edward Kilen­yi schrieb.
Nun brachte Wolfgang Birtel Stim­men und Partitur von Gershwins Jugendwerk neu heraus. Im zweisprachigen Vorwort schreibt Birtel, dass Gershwin das Stück „in zwei Versionen konzipiert“ habe, als Streichquartett und als Klavierstück. Die zweite Version blieb unvollendet (und unveröffentlicht). Obwohl es eine fertige Klavierfassung gebe, sei die originale Handschrift laut Birtel ­lediglich Fragment geblieben. Doch interessant wäre noch der Hinweis gewesen, ob die vollständige autografe Reinschrift verloren gegangen ist? Woraus sonst hätte Gershwin die Fassung für Streichquartett hergestellt?
Das Thema aus Lullaby übernahm der Komponist 1922 in die Arie „Has Anyone Seen My Joe?“ der Oper Blue Monday. Erst am 29. Oktober 1967, so Birtel, wurde Lullaby vom Juilliard String Quartet im Rahmen eines Konzerts in der Library of Congress in Washington erstmals öffentlich aufgeführt.
Unerwähnt bleibt auch, dass vier Jahre zuvor bereits Larry Adler das Autograf im Besitz von Gershwins Bruder Ira eingesehen hatte und ein Arrangement für Orchester erstellte, das dieser während des Edinburgh Festivals 1963 aufgeführt hatte.
Der Streichquartett-Satz selbst ist „eine reizvolle Miniatur, mit hübschen Klangeffekten und kraftvollen Akzenten“ (Birtel); stilistisch eine Art Ragtime-Wiegenlied mit langsamen Ragtime-Synkopen à la Scott Joplin.
Partitur und Stimmen sind nach den neuesten Standards in hervorragender Qualität gedruckt. Obwohl nicht explizit darauf hingewiesen wird, sind die originalen Vortrags- und Tempobezeichnungen und dynamischen Zeichen gerade, die Herausgeberzutaten kursiv gedruckt oder in Klammer gesetzt worden. Layout und Notenbild sind bestens lesbar, wenn auch vielleicht das eine oder andere „rall“ etwas hochgerutscht ist.
Als Marginalie könnte man noch bemerken, dass der Herausgeber den Bratschenschlüssel in der Stimme bereits ab Takt 45 bequem hätte vorschreiben können. In der Partitur ist der Violinschlüssel jedoch bis Takt 53 zwecks Übersichtlichkeit durchaus sinnvoll, um nicht ins Gehege der zweiten Violinstimme zu kommen.
Ein in der Tat „charmantes und stimmungsvolles Musikstück“, mit dem man als wirklich allerletztes Zugabenstück das Publikum nach Hause schicken kann.
Werner Bodendorff