Busch, Barbara

Lust auf Veränderung

Gespräch mit Gerhard Wolters über (s)ein musikpädagogisches Beratungskonzept

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 6/2020 , Seite 50

Lieber Herr Wolters, die Musikschule der Stadt Borken haben sie neun Jahre geleitet. In dieser Zeit entwickelten und erprobten Sie gemeinsam mit interessierten Kolleginnen und Kollegen die Idee des sogenannten MultiDimensionalen InstrumentalUnterrichts (MDU). 1999 veröffentlichten Sie erstmals Ihre Ideen und schreiben seitdem weitere „MDU-Updates“. Wie lautet der Kerngedanke des MDU?
Der Kernsatz lautet: „Ich möchte gar nicht (mehr), dass meine Schüler etwas lernen. Vielmehr möchte ich sie dabei unterstützen, etwas lernen zu wollen.“ Das selbstbestimmte Lernen steht im Zentrum des musikpädagogischen Selbstverständnisses der von uns ausgebildeten Lehrpersonen. Dieser Veränderungsprozess umfasst grundlegende Aspekte des Unterrichtens; hervorheben möchte ich besonders die Kommunikation im Unterricht: Im Zentrum steht das „Du“, das heißt wir verwenden ein konsequent schüler-orientiertes (nicht schüler-zentriertes!) Vokabular. Etwas salopp könnte man es auch so formulieren: „Ich kann ja schon Klavier spielen – und du willst es lernen. Dabei helfe ich dir gerne!“ Es steht kein „fremdbestimmter“ Lernstoff im Vordergrund, sondern eher ein Wahrnehmen der individuellen Lernmöglichkeiten. Da ein Kind in der Regel „sein“ Instrument bewusst und mit Begeisterung gewählt hat, ist die Lehrperson vor allem eine Begleiterin des Lernprozesses, der vom Schüler oder der Schülerin selbst gestaltet wird.

Schülerorientierung und Lehrende als Lernbegleiter – das sind altbekannte Ideen, die in der Fokussierung eher eindimensional wirken. Worin zeigt sich aus Ihrer Sicht die Multidimensionalität des Unterrichts?
Ja, die Ideen sind in der Tat nicht neu, doch wo werden sie wirklich konsequent umgesetzt? Diese Frage kann jede Lehrperson selbst beantworten, wenn sie den eigenen Unterricht mit den folgenden sieben Dimensionen vergleicht: 1. Lernen mit mehreren Unterrichtspartnern, 2. Lernen in mehreren Räumen, 3. Lernen in flexiblen Zeiten, 4. Lernen mit mehreren Lehrpersonen, 5. Lernen mit Lernenden verschiedenen Alters, 6. Lernen mit Lernenden verschiedenen Niveaus, 7. Lernen verschiedener Instrumente. Dazu kommen fünf weitere Dimensionen, die quasi als „Halb­töne“ zwischen diesen sieben organisatorischen „Grundtönen“ stehen: 8. Vertrauen in das Lernen-Wollen der Schülerinnen und Schüler, 9. Geduld zum Wachsen-Lassen, 10. Beobachten und wahrnehmen wollen, 11. Bereitschaft zur Selbstkritik, 12. Loslassen, um Lernen-Wollen zu ermöglichen. Wir vergleichen diese 7 + 5 Dimensionen gerne mit den Tönen einer Oktave. Jeder Ton für sich bewirkt allein noch nicht viel. Erst im Zusammenspiel dieser zwölf Töne kann millionenfach unterschiedliche Musik komponiert werden; ebenso entsteht durch das Zusammenspiel dieser Dimensionen erst eine Multidimensionalität des Unterrichts.

Mittlerweile leben Sie in der Schweiz und haben das Kürzel „MDU“ als Marke schützen lassen. Was bedeutet das konkret?
Sie finden dazu unter www.mdu.ch folgende Erklärung: „Wir freuen uns über jeden Unterricht, der schülerorientiert stattfindet und die vielfältigen Ideen des MultiDimensionalen InstrumentalUnterrichts MDU® nutzt! Es geht beim Thema Markenschutz lediglich um die Bezeichnung des Unterrichts, nicht um seine Inhalte und/oder Formen (genauso darf jedermann versuchen, selbst ein Auto zu bauen; er darf es nur nicht z. B. ‚Mercedes-Benz‘ nennen).“

2014 gründeten Sie in der Nähe von Bern die Akademie für musikpädagogische Innovation. Mit welcher Geschäftsidee im Kopf kam es zur Gründung dieses privatwirtschaftlichen Unternehmens?
Den Begriff „Geschäftsidee“ mag ich gar nicht. Ich unterrichte MDU genauso wie andere Lehrkräfte z. B. Klavier. Für mich war es die Verwirklichung eines lang gehegten Traums. Ich möchte die über 25 Jahre erfolgreich aufgebauten Lernstrukturen an interessierte Musikpädagogen weitergeben. Dabei wollte ich nicht in eine Institution eingebunden sein, die in einen sich kontinuierlich kreativ weiterentwickelnden Prozess zu sehr hineinredet.

Sie bezeichnen die Angebote der Akademie nicht als Fortbildung, sondern sprechen dezidiert von einer Ausbildung. Warum? Mit welcher Zielsetzung haben Sie bislang die Teilnehmer qualifiziert?
Ich frage zurück: Welche Fortbildungen haben die Leserinnen und Leser in den letzten Jahren besucht? Was haben sie davon behalten oder gar umgesetzt? Was bleibt? Uns geht es aber nicht um ein paar Tipps, um „gute Ideen zum Nachmachen“. Es handelt sich um sehr sensibel und bewusst anzuwendende Handlungsempfehlungen, die in ihrer individuellen Kombination einen Unterricht entstehen lassen, der letztlich bei jedem Teilnehmer anders aussieht. Und zu solch einem Lernen gehört nicht die „einfache Info“ eines singulären Halbtagesseminars.
Es braucht fünf Schritte eines Lernens, das dann getrost als Ausbildung (ähnlich einer Instrumentalausbildung) verstanden werden kann: 1. Kennen (Fachinformation durch unsere Akademie in diversen Seminaren), 2. Memo (Nacharbeiten des Seminars und regelmäßiges Reflektieren der Inhalte), 3. Üben (regelmäßiges Anwenden im Unterricht, ständige Reflexion und daraus folgend die eigene Weiterentwicklung), 4. Hilfe (da kommt unsere Akademie wieder ins Spiel: im Abstand von ca. vier Wochen ein meist einstündiges Reflexions- und Planungsgespräch per Skype-Coaching sowie meist drei bis fünf aktive und passive Unterrichtsbesuche pro Semester im konkreten Unterricht), 5. Können (insgesamt weit über 150 Lehrpersonen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich haben die mehrjährige Ausbildung inzwischen absolviert und zum Teil mit einem Zertifikat1 abgeschlossen).
Und da ich immer wieder gefragt werde, wie lange die Ausbildung dauert, bis man MDU „kann“: Ich frage dann meist zurück, ob die betreffende Lehrperson mir sagen kann, wie lange die Ausbildung dauert, bis man Klavier (Violine, Querflöte etc.) „kann“…

Wer besucht Ihre Akademie? Welcher Vo­raussetzungen bedarf es, um Kursangebote der Akademie wahrzunehmen?
Meist sind es Lehrpersonen zwischen 30 und 50 Jahren, die mit der MDU-Ausbildung beginnen. Sie haben mittlerweile eine große „positive Routine“ in didaktischen Fragen des Unterrichts erlangt und für viele Probleme ihrer Schülerinnen und Schüler gute und effektive Lernhilfen entwickelt. Sie spüren dann aber mit der Zeit, dass sie auf der Suche nach „mehr“ (für sich und für ihre Schüler) sind. Sie möchten sich in ihrem Unterricht neu herausfordern. In diesem Lebensabschnitt gewinnen außerdem andere Werte zunehmend an Bedeutung: Viele Teilnehmer spüren, dass sie sich bei Themen wie „Loslassen können“, „Kommunikationskultur“ und „Wahrnehmen statt bewerten“ nicht nur als Lehrperson, sondern ganz allgemein als Menschen weiterentwickeln können. Um sich mit den Grundzügen des MDU zu beschäftigen, sind zwei Grundvoraussetzungen notwendig: zum einen die Fähigkeit zur Selbstkritik und zum anderen eine große innere Lust, sich in einen Veränderungsprozess zu begeben.

Auf Ihrer Website fällt der Begriff „Coa­ching“ auf, mit dem allgemein eine beruf­liche Beratungsform bezeichnet wird. Was genau verbirgt sich hinter Ihrem beruflichen Beratungskonzept?
Zwar bieten wir auch ein eher „klassisches“ Coaching an: also einen Unterrichtsbesuch, bei dem ein MDU-Trainer den Unterricht anschaut. Im Anschluss werden zentrale Themen mit der Lehrperson diskutiert und gemeinsam neue Ziele vereinbart (auf Wunsch auch per Video oder auch online).

Ich möchte gar nicht (mehr), dass meine Schüler etwas ­lernen. Vielmehr möchte ich sie dabei unterstützen, etwas lernen zu wollen.

Als effektiver hat es sich allerdings herausgestellt, einen Unterrichtsbesuch aktiv mitzugestalten. Ein konkretes Beispiel: Um den Schüler in eine kurze Übephase zu entlassen, empfehlen wir einen sogenannten „Memo-Check“, der sich im Seminar völlig logisch anhört, in der Praxis aber meist gar nicht so leicht umzusetzen ist. Folgende vier Fragen umfasst dieser „Check“: 1. An welchem Parameter möchtest du üben? 2. Wie kannst du das so effektiv wie möglich üben? 3. Welches konkrete Ziel hat dein Üben? 4. Reicht dir diese Übemenge für die jetzt beginnende Übephase? Der Coach kann dann die Lehrperson z. B. fragen: „Möchtest du die Fragen des Memo-Checks deinem Schüler selbst stellen oder hilft es dir jetzt mehr, wenn ich es dir einmal beispielhaft vormache?“ Selbstverständlich wird dies durch eine Geste gezeigt und nicht vor dem Schüler diskutiert. Die meisten Teilnehmenden wählen übrigens die Variante des aktiven Coa­chings. Solch ein Unterrichtsbesuch unserer Akademie darf nie „Kontrolle“ sein, sondern ein Wahrnehmen, ein Begleiten und vor allem auch ein beispielhaftes Vormachen.
Das wohl effektivste Coaching unserer Akademie ist vielleicht den meisten Teilnehmenden gar nicht bewusst: Die Ausbildung ist so aufgebaut, dass sie die beiden zentralen Unterrichtsmodelle des MDU, den Simultanunterricht und das niveaugemischte Lernen, bewusst selbst anwendet, sodass die zu erlernenden Prinzipien zwischen Lehrperson und den Schülerinnen und Schülern so ähnlich wie möglich auch zwischen Coach und Lehrperson angewendet werden.

Was unterschiedet Ihr Angebot von einem künstlerisch-pädagogischen Bachelor-Studium? Inwiefern verstehen Sie Ihr Angebot als sinnvolle oder gar notwendige Ergänzung?
Es ist vor allem als berufsbegleitende Ausbildung gedacht, die den über Jahre aufgebauten Erfahrungsschatz nutzt, die persönliche Unterrichtssituation sowie die individuellen Rahmenbedingungen berücksichtigt, vor Ort wahrgenommen werden kann (sogar die Seminare können auf Wunsch online besucht werden), nicht zwangsläufig mit einer Prüfung abgeschlossen werden muss und nur Lehrpersonen offen steht, die lernen und sich weiter entwickeln wollen.

Ihre Akademie ist (neben Ihnen als Leitung) durch die Beteiligung eines großen Teams von sogenannten MDU-Paten, -Trainern und -Referenten organisiert. Welche Aufgaben übernehmen die einzelnen Statusgruppen?
Die Teilnehmenden können sich selbst erfahrene „MDU-Kolleginnen und -Kollegen“ als sogenannte Paten suchen und sich gegenseitig im Unterricht besuchen. Der Anfänger erhält einen Einblick, „wie es mal sein könnte“, der Pate lernt ebenfalls, da er seinen eigenen Unterricht in den Gesprächen bewusst reflektiert und somit weiter verbessert. Die Trainer unterstützen mich beim Skype-Coaching und bei den Unterrichtsbesuchen. Der „Junior-Trainer“ arbeitet mit meiner Unterstützung, der „Senior-Trainer“ ist bereits selbstständig tätig.
Das Thema „Referenten“ gehe ich sehr behutsam an. Viele fortgeschrittene Kollegen sagen mir immer wieder, dass sie die Komplexität sowie die Individualität des Ganzen so anspruchsvoll einschätzen, dass sie sich nur ganz vorsichtig diesem Tätigkeitsfeld anzunähern trauen. So „referieren“ sie zurzeit meist noch in kleinem Rahmen und stellen dabei ihren eigenen Zugang zu den MDU-Themen in den Vordergrund. Mein Ziel ist es aber, mich selbst in den nächsten Jahren und Jahrzehnten als Leiter, „Hauptreferent“ und auch als Coach überflüssig zu machen und die Verbreitung und Weiterentwicklung der wertvollen Ideen des MultiDimensionalen InstrumentalUnterrichts sowohl in jüngere als auch in noch vielfältigere Hände zu legen.

1 weitere Infos unter www.mdu.ch/mdu-projekt/mdu-qualitaetssicherung/zertifizierung (Stand: 27.10.2020).

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