Mahlert, Ulrich
Mächte und Ohnmächte
Musizierunterricht als Machtgefüge
Wie alles gemeinsame Handeln geschieht auch Musizierunterricht in einem komplexen Zusammenspiel vielfältiger Machtverhältnisse. Klarheit über die in der Berufspraxis wirksamen Machtfaktoren hilft Musiklehrenden, ihre pädagogische Arbeit verantwortungsvoll zu gestalten.
Menschen streben nach Macht. Der Wunsch, sich als mächtig zu erleben, gehört wohl zu den menschlichen Grundbedürfnissen.1 Wer kleine Kinder beim gemeinsamen Spielen beobachtet, erlebt fortwährend, wie stark das Machtmotiv in ihre Aktionen hineinwirkt. Alle möchten „groß und stark“ sein bzw. werden. Die Erwachsenen bestärken sie in diesem Wunsch. Solches primäre Machtstreben ist nichts moralisch Verwerfliches. Die früh sich regende Energie, eigene Interessen durchzusetzen, muss allerdings nach und nach mit sozialer Rücksichtnahme und Verantwortung für andere verbunden werden. Dies bleibt eine individualpsychologisch anspruchsvolle Aufgabe. Nicht immer gelingt sie. Wenn nicht, verformt sich Machtstreben zu einer negativen Kraft, die anderen Menschen auf Kosten eigener Anliegen schadet.
Musizierunterricht bietet vielerlei Möglichkeiten, das Streben nach Macht auszuleben. Sie können Nutzen und Schaden stiften. Macht kann Ohnmacht erzeugen, aber auch anspornen und beleben. Möglich ist auch, dass Machtausübung Widerstand auslöst, eigenständiges Handeln mobilisiert und – entgegen der Herrschbedürftigkeit von Machtausübenden – Emanzipation bewirkt.
Die Erscheinungsformen von Macht betreffen alle am Unterricht Beteiligten. Neben persönlich ausgeübter und erfahrener Macht gibt es Machtfaktoren, die aus strukturellen Gegebenheiten des Unterrichts und aus Musik selbst resultieren. Mein Beitrag soll einige Machtkonstellationen beleuchten:
– Lehrende üben Macht aus, indem sie Einfluss auf ihre Schülerinnen und Schüler nehmen.
– Schüler und deren Eltern gewinnen Macht als zahlende „Auftraggeber“ von Unterricht.
– Im Musizieren können Menschen Machtbedürfnisse gestalten.
– Die Einbindung des Unterrichts in Institutionen wirkt als strukturelle Macht.
– Nicht zuletzt: Auch Musik selbst ist eine Macht und wird als Macht erfahren. (Der Philosoph Georg Picht definierte Hören als „Wahrnehmung von Mächten“.2) Sie wirkt intensiv auf unser Gefühlsleben ein, bewegt und erhebt uns.
Erspüren und Reflektieren von Machtverhältnissen im Musizierunterricht gehören unverzichtbar zu den ständig zu leistenden Aufgaben von Lehrenden. Gerade weil Machtbedürfnisse psychisch tief verwurzelt sind, bleiben sie leicht undurchschaut und wuchern diffus in das Agieren hinein. Zu einem ethisch fundierten pädagogischen Handeln gehört die Fähigkeit, mit Macht aufgeklärt umzugehen. Machtmissbrauch ist eine schwere pädagogische Verfehlung. Die Machtimpulse im eigenen Handeln freizulegen, das Machtverhalten pädagogischer Partner und das eigene Reagieren darauf zu verstehen, wäre eine tiefgreifende psychoanalytische Aufgabe. Hier können nur einige zur Selbsterkundung anregende Hinweise gegeben werden.
Die Macht der Lehrenden
Lehrende „unterweisen“ ihre Schülerinnen und Schüler. Der Wortbestandteil „unter“ zeigt bereits das pädagogische Verhältnis: Lehrer stehen über Schülern. Ihr Vorsprung an Können, Wissen und Erfahrung sichert ihnen Überlegenheit. Selbst wenn sie sich um Augenhöhe mit ihren Schülern bemühen, ist die Differenz nicht aufhebbar. Die Macht von Lehrenden äußert sich im Unterricht auf vielerlei Weise: Sie sagen und zeigen, wie etwas gespielt und geübt werden soll. Sie wählen Werke aus, die nach ihrer Ansicht für die jeweils Lernenden geeignet sind. Sie machen Gebrauch von ihrer künstlerischen und pädagogischen Autorität. Sie stellen Leistungsanforderungen. Sie geben Aufgaben – im Unterricht und für die häusliche Arbeit – und überprüfen die Resultate. Sie berühren eventuell ihre Schülerinnen und Schüler körperlich (hoffentlich mit deren Einverständnis und dezent), um ihnen haptische Erfahrungen des Spiels auf dem Instrument zu vermitteln. Sie bewirken eine für das Musizieren erforderliche körperliche Disziplinierung, die bis zum Drill führen kann. Sie animieren das Spiel ihrer Schülerinnen und Schüler mit simultanen Bewegungen, suchen dirigierend Energieströme und Spannungsverläufe zu übertragen. Eine große Rolle spielt Suggestion: Körperliches Agieren lenkt unterschwellig, ohne direkte Anweisung; beispielhafte Fantasiebilder wirken auf die musikalische Vorstellung ein. Suggestives Lenken benimmt dem Schüler tendenziell die Freiheit einer bewusst getroffenen eigenen Entscheidung. Daher sind Suggestion und Manipulation kaum voneinander zu trennen. Das gilt auch für die Gestaltung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, die Gesprächsführung und die Atmosphäre im Unterricht.
All diese Handlungsweisen von Machtausübung ermöglichen Lehrenden im Musizierunterricht, die eigene Bestimmungs- und Wirkungskraft zu genießen und dadurch sich selbst groß zu fühlen. Da Körperlichkeit und Emotionalität unverzichtbare und machtvolle Faktoren des Musizierens sind, bieten sie besonders wirksame Möglichkeiten der Machtausübung. Ihre Inhalte und Vorgänge sind kognitiv oft kaum zu erfassen, wodurch eine Distanzierung des Schülers um so schwerer fällt. Subtil praktiziert, können sie geradezu künstlerische Qualität annehmen.
Ein Beispiel für solches pädagogische Wirken im Unterricht schildert Ketil Bjørnstad in seinem Roman Vindings Spiel. Die Klavierlehrerin Selma Lynge, die nicht mehr wie früher konzertieren kann, übt auf ihre Schülerin Anja eine suggestive Macht aus, die ihr selbst zum Erleben künstlerisch-pädagogischer Grandiosität verhilft: „,Was, glaubst du, ist Selma Lynges Strategie?‘ ‚Anja zu ihrer besten Freundin zu machen. Eine Mutter hat Anja schon. Frau Lynges Rolle muß sein, auf andere Weise Macht über sie zu gewinnen als nach dem Motto: erfahrene Frau belehrt junges Mädchen […]. Du darfst nicht vergessen, Frau Lynge ist eine verdammt gute Pädagogin, sie redet dich in Trance, bringt dich dazu, ihre Prämissen zu akzeptieren, ohne daß du es selbst richtig merkst. Sie möchte sich selbst durch ihre Schüler transformieren. Das gibt ihr die Würde zurück. Ein Künstler von ihrem Niveau hört niemals auf. Sie spielt mit ihren Schülern wie früher auf der Tastatur.‘“3 Die Schülerin Anja wird also geradezu zu einem Instrument, auf dem ihre Lehrerin sich selbst verwirklicht und ihre Machtbedürfnisse auslebt.
1 „Das Machtmotiv bezeichnet nach [David] McClelland das Grundmotiv, das auf die Gefühlserfahrung abzielt, die sich einstellt, wenn man Einfluss auf andere Menschen hat. Das Machtmotiv verkörpert letztlich die Hoffnung auf Kontrolle bzw. auch Furcht vor Kontrollverlust über andere. Das Machtmotiv ist auch ein guter Prädiktor für Präferenzen für Tätigkeiten und Situationen, in denen Prestige und Ansehen erworben werden können. Das Machtmotiv äußert sich häufig in dem Bedürfnis, sich stark und einflussreich zu fühlen, machtmotivierte Menschen genießen es, Überlegenheit zu demonstrieren, sei es in einem Streitgespräch oder auch durch körperliche Präsenz.“ Werner Stangl: Artikel „Machtmotiv“, in: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik, 2020, https://lexikon.stangl.eu/5991/machtmotiv (Stand: 8.12.2020).
2 Georg Picht: Kunst und Mythos, Stuttgart 1986, S. 463.
3 Ketil Bjørnstad: Vindings Spiel. Roman, Frankfurt am Main 2006, S. 280 f.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2021.