Busch, Barbara

Männlich dominiert

Warum spielen im Pop-Rock-Bereich so wenig Mädchen und Frauen Gitarre? – Gespräch mit Martin Schmidt

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 2/2022 , Seite 48

Martin Schmidt ist seit 1991 als Profimusiker mit seiner Band „The Razor­blades“ aktiv, aber auch als Sideman für andere Künstlerinnen und Künstler. Als Pädagoge verfügt er über mehr als 25 Jahre Unterrichts­erfahrung im Einzel-, Gruppen- und Bandunterricht. Als Journalist ist er für mehrere Magazine tätig und beobachtet seit vielen Jahren die Rock-Pop- und Gitarren­szene. Im Gespräch mit Barbara Busch erläutert er mögliche Gründe, weshalb so wenig Mädchen und Frauen in Pop-Rock-Bands aktiv sind – und was man dagegen tun müsste.

Lieber Herr Schmidt, in Gesprächen mit der Redaktion über das Thema dieser Ausgabe riefen Sie in Erinnerung, dass in Rock-Pop-Bands nur wenig Mädchen bzw. Frauen Gitarre spielen. Wie stellt sich die Situation genau dar?
Das kann ich nur aus meinen Erfahrungen nach 30 Jahren als Profimusiker schildern. Mein Umfeld war schon immer männlich dominiert, egal ob es sich um Studienkollegen, Gitarrenschüler, Mitmusiker und Bands, mit denen man Konzerte zusammen spielt, handelt. Frauen, die in Bands Gitarre spielen, tun dies oft nur in Form eines Begleitinstruments und beschränken sich auf akustisches Strumming (also Akkordbegleitung) oder Rhythmusgitarre. Es gibt natürlich Frauen, die auch im Rock-Pop-Bereich sehr ­virtuos ihr Instrument spielen, aber die sind selten: Ich schätze den Anteil auf zehn bis höchstens 20 Prozent.

Gilt Ihre Beobachtung auch für andere Band-Instrumente?
Ja. Die meisten Frauen sind als Sängerinnen aktiv. Bassistinnen und Keyboarderinnen gibt es auch einige, aber dann wird es sehr dünn. Schlagzeugerinnen oder Leadgitarristinnen sind selten.

Wie sieht es außerhalb des deutschen Sprachraums aus?
Meiner Meinung nach ähnlich. In England und Nordamerika ist es vielleicht etwas besser. Dort fallen mir auf jeden Fall mehr weibliche Vorbilder ein, vor allem aus dem Punk- und Underground-Rock-Bereich. Da gibt es z. B. die US-Bassistinnen Kim Gordon (Sonic Youth), Kim Deal (Pixies), Paz Lechanthin (Pixies) und die Sängerin und Gitarristin Gemma Ray aus England. Im Jazz-Bereich wären die leider schon verstorbene Emily Remmler und die in Los Angeles aktive Molly Miller zu nennen.

Welche Rolle spielt die Gitarre in der Musikschule?
Gitarre ist sicherlich eines der beliebtesten Instrumente und wird sowohl von Kindern als auch von Teenagern und Erwachsenen gespielt. Auch das spielerische Level zeigt eine große Bandbreite, von der einfachen Gesangsbegleitung über das ambitionierte Nachspielen von Pop- und Rock-Klassikern bis hin zum selbstständigen, kreativen Arbeiten in Form von Songschreiben, Arrangieren und eigenständigem Interpretieren. Für meinen eigenen Schülerstamm kann ich sagen, dass in den vergangenen Jahren mehr Mädchen und Frauen dabei sind, aber der Anteil beläuft sich immer noch auf höchstens 20 bis 30 Prozent. Das ist schon deutlich mehr als in den 1990er Jahren, aber noch immer nicht sehr viel. Aktuell sind an meiner eigenen Musikschule zwölf Gitarrenschülerinnen und 36 Schüler.

Welche Gründe vermuten Sie für die beschriebene Situation?
Ich denke, das liegt zum einen an gesellschaftlich-kulturellen Gegebenheiten, die sich einfach nicht so schnell ändern lassen. Das bildungsbürgerliche Klischee, dass Mädchen Klavier oder Geige lernen, wirkt da sicherlich immer noch nach, obwohl es heute keine formellen Hindernisse für Mädchen oder Frauen mehr gibt, das Instrument zu spielen, das sie möchten.
Zum anderen gibt es im kommerziell erfolgreichen Pop- oder Mainstream-Rock nicht sehr viele Vorbilder. Gitarrenhelden wie Jimi Hendrix, Eric Clapton, Eddie Van Halen oder Slash sind Männer. Im aktuellen Pop gibt es ja sowieso kaum Instrumentalisten, sondern nur Sänger oder eben Sängerinnen, die vielleicht etwas Gitarre spielen.
Man muss sich schon sehr stark für Musik allgemein oder etwas abseitigere Stile interessieren, um auf weibliche Vorbilder zu stoßen. In dem Umfeld, das mich als Jugend­licher geprägt hat, also Punk, New Wave und die Undergroundkultur der 1980er Jahre, gab es deutlich mehr Musikerinnen. Hinzu kam eine generelle Haltung, anders sein zu wollen und das zu machen, was einem persönlich gefällt.
Der Stil und die Haltung dieser Zeit spielen aber nach meiner Einschätzung heute für Jugendliche keine große Rolle mehr und kommen auch in der musikalischen Ausbildung nicht vor, die sich in Deutschland nach wie vor an der Klassik orientiert. In der Schule behandelt man dann vielleicht die Beatles oder ein paar andere Classic Rock-Künstler und spielt das eine oder andere aktuelle Stück aus den Charts nach. Von dort kommen also wenig Impulse für junge Menschen, um kreativ zu werden.

Wie erklären Sie sich die von Ihnen an­gedeutete „Rückwärtsentwicklung“: In den 1980er Jahren gab es mehr Musikerinnen?
Ich bin mir nicht sicher, ob sich das damals wirklich zahlenmäßig niedergeschlagen hat. Aber im Punk, New Wave und dieser ganzen Undergroundkultur Mitte der Achtziger hat man versucht, sich von vielen Konventionen zu befreien. Technische Fähigkeiten und Virtuosentum waren nicht so wichtig, sondern es ging um Ausprobieren, Kreativ-Sein und darum, etwas Eigenes zu erschaffen. Covern galt als uncool und man musste nicht immer spielen wie bestimmte Vorbilder, um als Musiker anerkannt zu werden. Im Zuge dessen haben auch viele Frauen und Mädchen Musik als gleichberechtigtes Bandmitglied gemacht, ohne ihr Geschlecht besonders zu betonen oder es optisch in den Vordergrund zu stellen. Das hatte eine Selbstverständlichkeit – und die ist meiner Meinung nach unglaublich wichtig, um Mädchen eine Perspektive zu eröffnen, dass Rockmusik etwas ganz Normales ist, was sie tun können, wenn es sie interessiert.

Bei Musik und Kunst sollte es mehr um den individuellen Charakter gehen, dann müssen Mädchen auch nicht spielen wie Jimi Hendrix oder singen wie Adele, sondern können ihren eigenen Weg finden.

Es gibt von der Musikerin und Künstlerin Danielle de Picciotto eine interessante 2020 erschienene Graphic Novel namens Die heitere Kunst der Rebellion sowie das bereits 2011 veröffentliche Buch The Beauty Of Transgression, in dem dieser Zeitgeist sehr gut beschrieben wird. Anfang der Neunziger wurden dann Grunge und Alternative Rock kommerziell erfolgreich, aber das modernere Frauenbild geriet ab Ende der 1990er Jahre wieder etwas in Vergessenheit, sodass man heute oft wieder dieses „Sängerin-plus-Begleitband“-Klischee hat. Das ist aber sicher nicht so motivierend wie Frauen, die genauso wild und selbstbewusst auf der Bühne und dahinter agieren wie ihre männlichen Kollegen.

Was sollte sich an der skizzierte Lage ändern?
Aus meiner Sicht wäre es erfreulich, wenn mehr Mädchen und Frauen ihr Instrument kreativ und virtuos spielen würden und die, die es schon tun, mehr Aufmerksamkeit bekämen. Das würde sicherlich die Bandbreite von Rockmusik erweitern und auch dieses Klischee des testosteron-gesteuerten Gitarrenkönigs aufweichen, der Gitarre spielt, um Mädchen zu beindrucken. Das finde ich persönlich ganz schrecklich.

Welche Lösungsansätze schlagen Sie vor, um mehr Mädchen und Frauen für das Gitarrenspiel in Rock-Pop-Bands zu gewinnen?
Man muss von dem Weg abweichen, ein Ins­trument erst „richtig“ zu lernen, bevor man Musik spielen kann (oder schlimmstenfalls darf), die einem gefällt. Musik machen, also Songs zu schreiben oder Ideen zu entwickeln, hat oft mit instrumentaler Technik wenig zu tun. Ich habe 17 Jahre lang ein Musikprojekt für die fünfte und sechste Klasse geleitet, bei dem Schülerinnen und Schüler ohne jede Vorkenntnis direkt in einer Band gespielt haben. Das hat zum einen den Kindern sehr viel Spaß gemacht, da es sehr unakademisch ohne Noten, rein über das Hören und Erinnern lief. Zum anderen hat dieser Ansatz auch jene Kinder für Musik begeistert, die über einen klassischen Instrumental-Einzelunterricht nicht erreicht werden. Dort haben dann genauso viele Mädchen Schlagzeug oder Gitarre gespielt wie Jungs und dabei sehr viel Bestätigung bekommen. Leider fand dieser Unterricht nur einmal pro Woche 45 Minuten statt. Würde man so etwas ausbauen, auf drei- bis viermal die Woche, dann könnte man sehr weit kommen – und zwar ohne den typischen Einzelunterricht.
Die Erfahrung, Musik zu machen, ist viel inspirierender, als kleinteilig das Handwerkszeug, die Technik zu erlernen und dann irgendwann zum eigentlichen Punkt, der Kreativität, zu kommen. Wenn man weiß, was man spielen möchte, es aber technisch noch nicht umsetzen kann, ist man viel eher bereit, an der Technik zu arbeiten, als wenn das im luftleeren Raum geschieht. Das geschieht aber in Deutschland oft nicht: Erst muss man Notenlesen lernen und eine Menge steif klingender Übungen absolvieren, um dann irgendwann zum musikalisch interessanten Material zu gelangen. Ich finde den sogenannten amerikanischen Ansatz, ein paar Akkorde zu lernen und einen Song zu spielen, wesentlich spannender und direkter.
Auch denke ich, dass man jungen Menschen in der Schule musikalisch mehr anbieten sollte als das, was in Charts und Fernsehsendungen stattfindet. In der Rockmusik greift man immer wieder auf die Beatles, Bob Dylan und andere 70er-Jahre-Musiker zurück. Würde man mehr Rockmusikerinnen im Unterricht vorstellen, würde das sicherlich die notwendige Inspiration und den Wunsch erzeugen, selbst auch Musik machen zu wollen.

Lassen Sie uns nochmal auf den Gedanken der Kreativität zurückkommen…
Es ist sehr wichtig, Kreativität zu fördern – und damit meine ich vor allem den eigenen musikalischen Ausdruck, anstatt immer nur auf Nachspielen zu setzen. Dann kann man schon mit einfachen Mitteln interessante Ergebnisse erzielen. Das eigene Stück kann man formen, wie man will, und es steht für sich. Ein nachgespieltes Gitarrensolo oder das Nachsingen eines Songs wird immer am Original gemessen. Der Aussage: „Toll, das klingt genau wie XY!“ wird meiner Meinung nach viel zu viel Bedeutung beigemessen. Bei Musik und Kunst sollte es viel mehr um den individuellen Charakter gehen, dann müssen Mädchen auch nicht spielen wie Jimi Hendrix oder singen wie Adele, sondern können ihren eigenen Weg finden.
Es ist schade, dass diese „Cover-Kultur“ so viele Bereiche beherrscht: Casting-Shows, Stadtfeste, aber auch Schulkonzerte und YouTube-Videos. Ich würde gerne mehr neue, eigene Musik hören und sehen. Gerade in Schulen, Musikschulen, Universitäten und Musikhochschulen hätte man da eine Menge Möglichkeiten, die derzeit nicht oder kaum genutzt werden.

Welche Konsequenzen ergeben sich für jene, die tagtäglich Gitarrenunterricht geben?
Auch hier sollte man die ausgetretenen Pfade verlassen: Nicht immer nur Gitarrenschulen durchspielen und technische Fähigkeiten vermitteln, sondern sich am Interesse der Lernenden orientieren, sprich: an eigenen Songs arbeiten, Technik wie elektronische Instrumente oder Aufnahmesoftware in den Unterricht integrieren und auch abseitige Künstlerinnen und Künstler und Songs behandeln. Gegen Technikübungen und das Nachspielen von Klassikern ist ja prinzipiell nichts einzuwenden, aber viele Schülerinnen und Schüler sind dankbar, wenn ihnen etwas Neues, Originelles angeboten wird – besonders dann, wenn der Lehrer oder die Lehrerin das selbst musikalisch überzeugend darbieten kann. Das Geschlecht der unterrichtenden Person spielt dabei nach meiner Erfahrung keine Rolle.

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