Mozart, Wolfgang Amadé

„Mailänder Variationen“

Thema und 12 Variationen in C-Dur für Clavier KV deest, hg. von Carsten Wollin

Rubrik: Noten
Verlag/Label: ortus, Beeskow 2024
erschienen in: üben & musizieren 6/2024 , Seite 58

Bei dieser Neuerscheinung handelt es sich um die Erstausgabe einer Variationenreihe, deren Autograf verschollen ist. Eine um 1791 entstandene, im Landesarchiv Graz aufbewahrte handschriftliche Kopie nennt Wolfgang Amadé Mozart als Komponisten.
Das Variationsthema ist der Mozart-Forschung aus einer Sammlung von neun kleinen Clavierstücken bekannt, die Alfred Einstein in einer Handschrift der Preußischen Staatsbibliothek Berlin entdeckt und in der von ihm betreuten, 1937 erschienenen dritten Auflage des Köchel-Verzeichnisses unter die Werke zweifelhafter Echtheit eingeordnet hat (KV3, Anh. 207). Für die Variationen dagegen gibt es außer der erwähnten Grazer Handschrift keine Belege, weshalb sich die bisherige Diskussion um die Authentizität des Werks an stilistischen Kriterien orientiert. Angesichts der sehr konventionellen und schematischen Kompositionsweise schließen sowohl Einstein als auch Wolfgang Plath (in seiner Vorarbeit zur Neuen Mozartausgabe des Bärenreiter Verlags, 1964) eine Autorschaft Mozarts aus.
Die sehr begrüßenswerte erstmalige Publikation des Werks durch Carsten Wollin gibt nun einer größeren Öffentlichkeit die Möglichkeit, sich ein Urteil zu bilden. Wollin referiert in seinem ausführlichen Vorwort sowohl die bisherige Diskussion über die musikalische Qualität der Variationen als auch den aktuellen Wissensstand zum möglichen Kontext, in dem das Thema und eventuell auch die Variationen entstanden sein könnten. Anschließend nimmt er eine stilistische Neubewertung der Variationen vor und zählt eine Reihe von Kriterien auf, die seiner Einschätzung nach eine Autorschaft Mozarts trotz konzedierter Mängel möglich erscheinen lassen.
Neuere Forschungen konnten einen Zusammenhang der von Einstein entdeckten neun Clavierstücke mit Mozarts 1771 in Mailand komponierter Oper Ascanio in Alba (KV 111) plausibel machen. Die Oper, ein Auftragswerk anlässlich der Vermählung des jüngsten Sohnes der Kaiserin Maria Theresia, Erzherzog Ferdinand Karl, mit Maria Beatrix von Este-Modena, enthielt zwischen den beiden Akten ein Ballett, zu dem Mozart in aller Eile die Musik bereitstellen musste. Von der Ballettmusik ist nur die Bass-Stimme überliefert, die bei einigen Nummern, darunter dem in Rede stehenden Thema, mit den genannten Clavierstücken KV3 Anh. 207 übereinstimmt. Es ist denkbar, dass Mozart, der das Ballett am Cembalo begleitete, sich bei dieser Gelegenheit auch als Clavierspieler mit improvisierten oder auswendig vorgetragenen Variationen hören ließ.
Die Frage nach dem Komponisten der in Graz überlieferten Variationen bleibt gleichwohl völlig offen und die bereits von Einstein und Plath formulierten, die musikalische Qualität betreffenden Vorbehalte sind nicht widerlegt. Doch wird die neue Publikation sicherlich eine genauere Auseinandersetzung mit dem Werk anregen.
Sigrid Naumann