Siedenburg, Ilka

„Man müsste Klavier spielen ­können…“

Was Musikpädagogik und Schönheitschirurgie gemeinsam haben

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2016 , Seite 12

Der bekannte Schlager von Johannes Heesters bringt die verbreitete All­tagsvorstel­lung zum Ausdruck, musikalische Aktivität steigere die erotische Aus­strahlung und verschaffe so ei­nen Vorteil bei der Partnerwahl. Doch was ist dran an diesem Klischee, und welche Bedeutung hat es für diejenigen, die ein Instrument erlernen?

„Man müsste Klavier spielen können, wer Klavier spielt hat Glück bei den Fraun.
Weil die Herrn, die Musik machen können, schnell erobern der Damen Vertraun.“1

Die Vorstellung einer betörenden Wirkung des Musizierens findet sich in vielen Mythen und Sagen: Odysseus ist den Sirenen ebenso ausgeliefert wie die Rheinschiffer der Loreley. Ähnliche Beispiele lassen sich in unterschiedlichen Kulturkreisen finden.2 Auch aus wissenschaftlicher Perspektive wurde die Vorstellung einer erotischen Komponente der Musik immer wieder auf­gegriffen. Wenn man nun davon ausgeht, dass Musizieren die Möglichkeit birgt, andere zu bezaubern, kann dies ein Beweggrund sein, um selbst musikalisch aktiv zu werden. Musikpädagogische Angebote können demnach auch mit dem Ziel aufgesucht werden, die eigene Attraktivität zu steigern. Doch kann und will die Musikpädagogik solche Erwartungen erfüllen und damit der Schönheitschirurgie oder dem Fitnessstudio Konkurrenz machen?

Musik und Evolution

Die Evolutionstheorie hat sowohl unser Alltagsverständnis als auch die wissenschaft­liche Erklärung mensch­lichen Verhaltens nachhaltig geprägt und wurde auch auf die Musik vielfach angewendet. Charles Darwin hielt musikalische Fähigkeiten für geheimnisvoll, da ihr Nutzen für das Überleben und die Fortpflanzung nicht offenkundig sei. Seine Vermutung: Musik habe die Funktion, sich gegenseitig zu umwerben, „to charm each other“, wie er sich ausdrückt.3 Spätere evolutionstheoretische Ansätze knüpfen an diese Grundidee an und betrachten Musik als menschliche Entsprechung zu den Balzlauten der Tiere.4
Sprachlich erscheint dies zunächst aufgrund der Analogie zum Gesang von Vögeln einleuchtend. Wenn man aber solche tierischen Äußerungen als „Musik“ definiert, müss­ten andere Balzlaute konsequenterweise ebenfalls dazu gezählt werden. Die Brunftschreie von Hirschen oder das Klappern von Störchen als musikalischen Ausdruck zu betrachten, erscheint jedoch weitaus weniger plausibel.
Zudem wird der Musik eine Bedeutung als evolutionäres Selektionskriterium zugeschrieben. Dabei sind unterschiedliche Argumentationen anzutreffen: Zum einen werden musikalische Fähigkeiten als Indikator für Intelligenz und körperliche Fitness interpretiert, aufgrund derer das menschliche Weibchen Schlüsse hinsichtlich der Qualität der Gene ziehen kann. Zum ­anderen wird musikalischer Ausdruck als „akustisches Pfauenrad“ betrachtet, also als beeindruckendes Merkmal, das sich zwar für das Überleben als überflüssig herausgestellt, aber dennoch als Kriterium der Partnerwahl weiterentwickelt hat.
Beide Argumentationen können wenig überzeugen – zunächst aufgrund des implizierten Modells der „Damenwahl“. Geht man davon aus, dass nur das Männchen mit seinen musikalischen Fähigkeiten das Weibchen beeindrucken will und nicht umgekehrt, müssten die musikalischen Qualitäten von Frauen geringer ausfallen als die von Männern. Im Gegensatz zu Herrn und Frau Amsel ist dies beim Homo sapiens aber nicht der Fall. Der Handlungsspielraum, den Männer und Frauen in verschiedenen Kulturen bei der Partnerwahl haben, scheint sich ebenfalls nicht auf das jeweilige musikalische Ausdrucksvermögen der Geschlechter auszuwirken. Zudem zeugen Musiker nicht mehr Kinder als Nicht-Musiker, und Menschen, für die aufgrund ihrer Lebenssituation oder ihres Alters die Partnerwahl eine geringe Rolle spielt, sind ebenso musikalisch aktiv wie solche, die ­gerade eine Familie gründen wollen. Auch die sexuelle Orientierung ist für die Entwicklung musikalischer Fähig­keiten nicht relevant.
Dies alles spricht gegen die von Dietrich Helms als „Zucht­wahlthese“ bezeichnete Vorstellung, die seiner Meinung nach auf einem grundsätzlichen Denkfehler beruht: „Ich meine, Musik ist eine kulturelle Kategorie. Die natür­liche Zuchtwahl Darwins dagegen ist eine biologische Kategorie. Beides lässt sich kaum glaubwürdig zueinander in Beziehung setzen, will man nicht alle Äußerungen des Lebens auf den Überlebenskampf der Gene reduzieren und die Biologie als Wissenschaft vom Leben zur Wissenschaft aller Lebensäußerungen erheben.“5

1 Hans Fritz Beckmann, gesungen von Johannes Hees­ters.
2 vgl. Christian Lehmann: „Musik und Suggestion: Eine humangene­tische Annäherung“, in: Psychoanalyse und Körper 11, Nr. 21, Heft 2/2012, S. 31 ff.
3 Darwin 1871, zit. nach Lehmann, ebd.
4 vgl. zum Folgenden Lehmann, ebd. sowie Dietrich Helms: „Theore­tische Überlegungen und historische Schlaglichter zum Thema ‚Erotik und Musik‘“, in: Thema Nr. 1: Sex und populäre Musik, hg. von Thomas Phleps und Dietrich Helms, Berlin 2011, S. 9 ff.
5 vgl. Helms, S. 10.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2016.