Rhode-Jüchtern, Anna-Christine

Maria Leo (1873-1942)

Pionierin einer neuen ­Musikpädagogik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Olms, Hildesheim 2021
erschienen in: üben & musizieren 2/2022 , Seite 58

Bis in die Gegenwart waren die vielfältigen Leistungen der in Berlin wirkenden, 1942 vor den Nazis in den Freitod geflüchteten Musikpädagogin Maria Leo nur rudimentär bekannt. Immer noch dominieren die beiden großen alten Männer Leo Kestenberg und Hermann Kretzschmar das Blickfeld von Darstellungen, die sich mit der Geschichte des musikalischen Ausbildungswesens vom späten 19. Jahrhundert bis zum Bruch der Nazis mit den fortschrittlichen Tendenzen der Weimarer Republik beschäftigen. Anna-Christine Rhode-Jüchtern hat nun ein profundes Werk ersten Ranges vorgelegt, das diese Verengung des Blickwinkels mit bestechender Gründlichkeit korrigiert und erstmals die komplexen Zusammenhänge der vorangehenden musikpädagogischen Bestrebungen im damaligen Preußen ausleuchtet.
Dargestellt werden die mühevollen, durch viele Widerstände gebremsten, vor allem durch die unablässige Energie von Maria Leo nach und nach erfolgreichen Aktivitäten zur Realisierung einer pädagogisch fundierten Ausbildung insbesondere von Frauen für Lehrtätigkeiten vorrangig im Klavierspiel im außerschulischen Bereich, aber auch für den Gesangsunterricht an allgemeinbildenden Schulen. Ohne das Wirken von Maria Leo wären die von Kestenberg in den 1920er Jahren durchgesetzten Reformen des Privat- und Schulmusikunterrichts mit den entsprechenden Ausbildungsgängen und Prüfungen nicht möglich gewesen.
Der geschichtliche Horizont des Buchs ist weit gespannt. In 14 Kapitel vermittelt die Autorin chronologisch und gleichzeitig auf inhaltliche Schwerpunkte ausgerichtet den Lebensweg und das vielfältige Wirken von Maria Leo. Zwischen den Kapiteln sind acht „Zeitfenster“ eingefügt: Sie geben den Blick über die Protagonistin hinaus frei auf die gesellschaftlichen und speziell die musikpädagogischen Gemengelagen, in denen Maria Leo und ihre MitstreiterInnen sich bewegten und mit denen sie oft genug schwer zu kämpfen hatten.
Christine Rhode-Jüchterns Buch zeichnet sich durch eine schier überbordende Materialfülle und durch eine akribische Gründlichkeit aus, die höchste Anerkennung verdient. Viele weit verstreute und schwer zugängliche, zum Teil in mühevoller Archiv­arbeit erschlossene Dokumente und Materialien werden wiedergegeben, ein beträchtlicher Anteil erstmals veröffentlicht. Statistiken und Tabellen bieten eine fassliche Aufbereitung des enormen Stoffs. Souverän überblickt die Autorin das gesamte Schrifttum zur Musikpädagogik des behandelten Zeitraums und bringt es kritisch in ihre Darstellung ein. Häufig korrigiert sie Behauptungen und Fehleinschätzungen.
Wer sich mit der Geschichte der Ausbildung für musikpädagogische Berufe in den Jahrzehnten vor und von Kestenbergs Wirken beschäftigt, findet in Christine Rhode-Jüchterns Buch die bisher weitaus kenntnisreichste, umsichtigste und differenzierteste Darstellung.
Ulrich Mahlert