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Dahme, Nathalie / Sabine Anni Schmid

Mehr als laut und leise?!

Musikalische Dynamik voraussetzungsoffen erleben und gestalten

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 4/2024 , Seite 26

Dieser Beitrag stellt einige Bausteine vor, wie Musiklehre, insbesondere die Auseinandersetzung mit Dynamik, ­voraussetzungsoffen, unmittelbar erfahrbar und körperorientiert angeboten werden kann. Die Ideen können dabei sowohl in den Unterricht integriert als auch ­ergänzend in weiteren Settings umgesetzt werden.

Musiklehre wird als fester Bestandteil eines umfassenden Musikunterrichts gesehen. Ob im instrumentalen Gruppen- oder Einzelunterricht, in der Elementaren Musikpraxis, in Kinderchören oder im schulischen Unterricht kommt man mit Themen der Musiklehre manchmal gezielt, manchmal en passant in Berührung. Dabei ist Musiklehre keinesfalls nur ein kognitives Verstehen von musikalischen Strukturen oder ein stupides Abmalen von Noten und Schlüsseln. Vielmehr sollte Musiklehre stets auf vielfältigen eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen fußen, die im praktischen Tun körperlich und sensorisch erlebt und reflektiert werden. Auf dieser Basis und durch kreative Auseinandersetzung können Strukturen und Prinzipien abgeleitet und mit Bedeutung und Sinn gefüllt werden.

Klangspaziergang

Unser Alltag ist durchzogen von akustischen Ereignissen. Aber wer hört im Alltag schon genauer hin, um wahrzunehmen, wie vielfältig sich unsere Klangumgebung gestaltet? Klangspaziergänge, inspiriert vom Komponisten und Klangforscher R. Murray Schafer, Begründer der Soundscape-Bewegung,1 können an unterschiedlichen Orten durchgeführt werden, sei es im eigenen Zimmer, in der gesamten Wohnung, an einer befahrenen Straße, im Wald oder im Park. Ausgangspunkt dafür ist die eigene Wahrnehmung – als „unverzichtbares Fundament für alle Formen musikalischen Agierens“.2
Für einen Klangspaziergang sind alle Teilnehmenden eingeladen, sich auf den Weg zu machen, an drei Lauschpunkten innezuhalten und die akustischen Ereignisse bewusst wahrzunehmen. Hier spielen multisensorische Zugänge eine große Rolle, wobei dem Hören und Zuhören ein besonderer Stellenwert zukommt. Die Dauer des Lauschens an den Lauschpunkten sollte individuell festgelegt werden, um eigene Präferenzen und Konzentrationsspannen zu berücksichtigen.
Die eigenen Hörwahrnehmungen sind Grundlage für eine ästhetische Auseinandersetzung mit dem Klangmaterial: „Ob es uns tatsächlich gelingt, Soundscapes quasi als Musik zu hören, hängt davon ab, ob wir in der Lage sind, alltägliche Hörperspektiven, in denen wir Klänge primär und kausal mit ihrer Entstehungsquelle identifizieren, zu verlassen, indem wir uns der ästhetischen Wahrnehmung ihrer sinnlichen Gestaltqualität widmen: dem Sound itself.“3 Die Frage, wie etwas für uns klingt, ist bei dieser Herangehensweise wichtiger als die Frage, ob es richtig oder falsch ist.

Geheimtipp: Mache die Schritte während des Spaziergangs manchmal sehr laut und manchmal so leise, dass man dich fast nicht hört!

Der Austausch über die gehörten Wahrnehmungen lädt dazu ein, ein Vokabular zu entwickeln, mit dem die Klangqualität der Eindrücke beschreibbar wird. Oft sind es keine richtigen oder falschen Lösungswege, sondern Fragen, die aus verschiedenen und individuellen Perspektiven gestellt werden können. Diese Herangehensweise ist vor allem für Bildungsprozesse von großer Relevanz: „Insofern solche Prozesse mit individuellen Transformationen verbunden sind, erscheint es angezeigt, sie nicht von außen zu normieren, sondern sie vielmehr mit einer didaktischen Ausrichtung zu begünstigen, die sich durch eine gewisse Offenheit auszeichnet. Musikalische Bildung kann in diesem Sinne als selbstgesteuertes Lernen gedacht und konzipiert werden, das persönliche Ziele und Aneignungswege impliziert.“4
Lehrkräfte sollten sich unbedingt ebenfalls auf einen Klangspaziergang begeben und die Erfahrungen und Erlebnisse gemeinsam mit ihren SchülerInnen reflektieren. Der Austausch über kratzige, weite, dunkle, scharfe oder rissige Klänge kann sehr bereichernd sein und geht weit über ein „richtig und falsch“ oder „gefällt mir oder gefällt mir nicht“ hinaus. Zudem lädt ein Klangspaziergang als gemeinsame Forschungsreise dazu ein, eingefahrene Rollen von SchülerInnen und Lehrpersonen im Unterricht anders zu denken. Zentral ist die eigene individuelle Erfahrung von Personen mit unterschiedlichen Perspektiven und Expertisen, über die man in Austausch und Reflexion kommen kann.
Die gehörten Klänge sollten an jedem Lauschpunkt aufgezeichnet werden, wobei laute oder lautere Töne beispielsweise durch größere Zeichen oder eine andere Farbe dargestellt werden können. Hier finden Sie eine Vorlage zur Notation eines Klangspaziergangs.5 Wie genau die Nota­tion und die Abstufung der Lautstärken erfolgt, können die KlangspaziergängerInnen selbst festlegen.

Klangspaziergang 1. Teil:

Klangspaziergang 2. Teil:

Die eigene Wahrnehmungsperspektive kann durch differenzierte Bewegungsarten erweitert werden. Indem man die eigenen Schritte während des Klangspaziergangs manchmal sehr laut, manchmal sehr leise ausführt, wird nicht nur der eigene Körper zum Musikinstrument; auch die unterschiedlichen Untergründe werden bewusst wahrgenommen und die Aufmerksamkeit sensibilisiert.
Ein Klangspaziergang kann immer wieder in unterschiedlichen Kontexten und an allen mög­lichen Orten stattfinden. Dabei können sich durch andere Gruppenkonstellationen neue Fragestellungen entwickeln und zu immer neuen Ergebnissen führen.

Experiment

– Wie klingt ein Kissen, das auf einen Untergrund fällt?
– Wie klingt ein Heft oder ein Schlüssel bei Flug und Aufprall?
– Klingen Gegenstände anders, wenn sie auf einem Teppichboden oder einem Holzboden landen?
Lehrkräfte und SchülerInnen können Gegenstände bereitstellen und auf ihre Klangeigenschaften untersuchen. Im nächsten Schritt können die Gegenstände von leise nach laut sortiert werden. Diese Aufgabe ist gar nicht so einfach, wie sie klingt! Schnell bemerkt man, dass die entstandenen Klänge nicht nur in der Dynamik, sondern auch in ihren Klangeigenschaften sehr unterschiedlich sein können. Manche Gegenstände klingen dumpf, während andere eher schrill klingen. Manche Gegenstände erzeugen einen kurzen Klang, während andere nachklingen oder in ihrer rotierenden Bewegung leiser werdende Klänge erzeugen.
Sich tatsächlich nur auf die Dynamik zu konzentrieren, ist eine wahre Herausforderung. Ein Gespräch zwischen allen SpielpartnerInnen, in dem die eigenen Höreindrücke diskutiert und verglichen werden, kann bei dieser Aufgabenstellung helfen. Die entstandene dynamische Sortierung der ausgewählten Gegenstände kann nun fotografiert oder verschriftlicht werden. So entsteht nach und nach eine Sammlung von Alltagsgeräuschen, die auf das Phänomen der Dynamik hin untersucht wurden. Diese Sammlung kann Ausgangspunkt zu weiteren klanglichen Forschungsfragen sein, die Lehrkräfte und SchülerInnen gemeinsam entwickeln können:
– Welche Gegenstände klingen besonders interessant zusammen?
– Kann man die Klänge zu einer Partitur anordnen?
– Kann man die Klangeigenschaften auf das eigene und auf andere Instrumente übertragen?
– Können Aufnahmen der Klänge erstellt und bearbeitet werden?
– Können die Klänge in grafische Notationen umgewandelt werden?
Besonders spannend kann es sein, im Gruppenunterricht jeden Klang auf ein eigenes Notationskärtchen zu notieren, um diese dann unter den Mitspielenden auszutauschen. So ergibt sich die Möglichkeit, sich mit der Vertonung eines nicht selbst gezeichneten Kärtchens zu beschäftigen.
Die Erfahrungen mit dem Dynamik-Experiment können auch in das weitere Musizieren hineinwirken:
– Welche Wirkung hat die Lautstärke in dem Stück, das ich gerade spiele?
– Was passiert, wenn ich die Dynamik-Anweisungen einmal umgekehrt ausführe? Wie fühlt sich das an?
– Welche dynamischen Spielanweisungen sollen in meinem selbst geschriebenen Stück eine Rolle spielen und warum?

Würfelmusik

Eine weitere Möglichkeit, die Dynamik zu variieren und damit zu spielen, ist die Spielidee der Würfelmusik. Für jede Würfelzahl wird ­eine dynamische Spielanweisung, aber auch weitere musikalische Parameter wie Tempo und deren Entwicklung/Veränderung festgelegt. Der Zufall des Würfelns entscheidet dann über die musikalische Gestaltung eines Literaturstücks, einer Improvisation oder Eigenkomposition, einer Etüde, einer Tonleiter usw.

Würfelmusik:

Dieses simple Regelspiel ermöglicht SchülerInnen, ihre Aufmerksamkeit auf dynamische Gestaltungsmöglichkeiten zu richten und zu erleben, wie musikalische Ausdrucksmöglichkeiten, Spannungsbögen und Spielgefühl davon beeinflusst werden. Auch scheinbar unpassende und ungemütliche Kombinationen können als Experiment gesehen werden, das die Wahrnehmung für dynamische Prozesse schärft und durch den Variantenreichtum eine Sicherheit mit dem musikalischen Mate­rial ermöglicht.
Die Spielideen laden dazu ein, „variiert, weitergedacht, in Beziehung gesetzt und fortgesponnen zu werden. Es ist möglich, sie auf verschiedenen Kenntnisstufen mehrfach zu bearbeiten […]. So können sie zu immer neuen Ergebnissen führen.“5 Man könnte zum Beispiel Klänge des Klangspaziergangs in einer dynamischen Klangcollage anordnen und neu vertonen. Auch könnte das Würfelspiel die erstellte Partitur des Experiments nochmals aufwirbeln und zu neuen musikalischen Ideen verhelfen. So kann mit diesen Spielideen alles möglich sein – was genau, entscheiden die Personen selbst.

1 Für Anregungen zur Beschäftigung mit diesem Thema siehe: Schafer, R. Murray: Anstiftung zum Hören. Hundert Übungen zum Hören und Klänge Machen, Aarau 2002.
2 Savage-Kroll, Camille: „Wahrnehmen und Erleben“, in: Dartsch, Michael/Savage-Kroll, Camille/Schmidt-Hiller, Kitty/Steffen-Wittek, Marianne/Stiller, Barbara/Vogel, Corinna (Hg.): Timpano. Elementare Musikpraxis in Themenkreisen für Kinder von 0 bis 10, Kassel 2016, S. 48.
3 Roszak, Stefan: „Am Anfang war das Ohr. Auditive Sensibilisierung im städtischen Klangraum“, in: zaeb.net – zeitschrift ästhetische bildung, 2009, Nr. 2, http://zaeb.net/wordpress/wp-content/uploads/2020/ 12/25-102-1-PB.pdf. Wiederveröffentlicht in: Klangakt, Bd. 1, Nr. 4, 2023, https://doi.org/10.5282/klangakt/31 (Stand: 13.6.2024).

4 Dartsch, Michael/Reitinger, Renate/Stiller, Barbara: „Der neue Bildungsplan für frühe musikalische Bildung in und mit Musikschulen. Ein Beitrag zur Bewältigung aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen?“, in: üben & musizieren.research, Sonderausgabe Artistic ­Citizenship, 2023, S. 114-123, www.uebenundmusizieren.de/artikel/research_artistic-citizenship_dartsch-reitinger-stiller (Stand: 13.6.2024), S. 117.
5 Dahme, Nathalie/Schmid, Sabine Anni: Musiklehre monsterstark. Das Kreativbuch für Kinder, Mainz 2023, S. 34 f.
6 ebd., S. 3.

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