Konrad, Ute

Mehr als Musizieren?

Partizipationskultur in Musikvereinen als intergenerative Praxis

Rubrik: Forschung
erschienen in: üben & musizieren 3/2023 , Seite 52

Musikvereine sind Orte intergenerativer Begegnung. Häufig werden aber nicht alle Generationen gleichermaßen in der methodisch-didaktischen Umsetzung berücksichtigt. Mit der Partizipation sollen Möglichkeiten der intergenerativen Gestaltung aufgezeigt werden.

Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels gewinnen Formate, in denen Menschen verschiedener Generationen zusammenkommen, an Bedeutung, um gesellschaftlichen Zusammenhalt und Generationensolidarität zu stärken.1 Musikvereine schaffen intergenerative Begegnungen. Sie werden jedoch erst in jüngerer Zeit Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen, vor allem in den Forschungen zur kulturellen Bildung im ländlichen Raum.2 Bisher wurden sie kaum unter dem Aspekt der sozialen und kulturellen Teilhabe für verschiedene Generationen betrachtet. Im vorliegenden Beitrag werden Teilergebnisse einer Vorstudie vorgestellt, die derzeit im Rahmen der Beforschung von kultureller und sozialer Teilhabe von vulne­rablen Gruppen im höheren Lebensalter durchgeführt wird. Für den vorliegenden Beitrag werden Partizipationspotenziale in Musikvereinen untersucht und aufgezeigt, wie in Orchestern Partizipationsräume geschaffen werden können.

Orte geragogischer Praxis

Die Perspektive der Geragogik impliziert immer auch die Frage nach einer Teilhabe an Gesellschaft und Bildung.3 Musikalische Bildung als Teil kultureller Bildung ist ein wichtiger Bestandteil sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe4 – und das unabhängig vom Lebensalter. Jedoch gibt es noch wenig Angebote, die methodisch und didaktisch auf ältere und hochaltrige Menschen abgestimmt sind.5 Musikvereine sind häufig offen für alle Generationen und werden bis ins hohe Alter genutzt. Sie bieten die Möglichkeit, in ihrer Gestaltung geragogische Prinzipien zu berücksichtigen, ohne dabei die Bedürfnisse der jüngeren Generationen zu vernachlässigen. Der Ansatz des intergenerativen Lernens bietet z. B. Potenzial, im Ensemble eine Partizipationskultur zu etablieren, in der sich die Mitglieder in das soziale System des Ensembles integrieren und in einen (intergenerativen) Austausch treten.

Intergeneratives Lernen
Andreas Meese unterteilt das intergenerative Lernen in drei Zugänge:6
1. Voneinander-Lernen: Das „Expertenwissen liegt bei einer der beteiligten Generationen“,
2. Miteinander-Lernen: Das „Expertenwissen liegt außerhalb der beiden Generationen oder wird gemeinsam erarbeitet“,
3. Übereinander-Lernen: „Generationenspezifische Lebenserfahrungen und Wissen werden ausgetauscht“.
Auch wenn die Mitglieder in Musikvereinen aus verschiedenen Generationen stammen, entspricht die Probenarbeit als Kerngeschäft der Ensembles nicht zwangsläufig einem dieser Zugänge. Die Zugänge des intergenerativen Ansatzes erfordern nämlich einen kommunikativen Austausch der MusikerInnen untereinander, der in der konventionellen Probenarbeit nicht vorgesehen ist. Zumeist findet ein ,Nebeneinander-Lernen‘ statt, das das Ziel intergenerativen Lernens als „initiierte und individuell intendierte Begegnung“7 verfehlt.

Partizipation als geragogisches Leitbild und Zieldimension
Die Öffnung von Partizipationsräumen bietet Möglichkeiten eines intergenerativen Austauschs, wodurch zwei Zieldimensionen der Geragogik in der Praxis der Musikvereine umgesetzt, jedoch auch Anpassungen der konventionellen Probenarbeit erforderlich werden. Partizipation wird hier verstanden als aktive und mündige Beteiligung an Entscheidungsprozessen. Diese können sowohl den musikalischen Bereich wie die Stückauswahl und Probengestaltung betreffen, als auch die Gestaltung des Sozialen im Vereinsleben oder Entscheidungen über strukturelle Veränderungen.
Über die unmittelbare Gestaltung der Ensemb­learbeit hinaus stärkt Partizipation das Zugehörigkeitsgefühl und fördert das Empowerment der Mitglieder. Als Zieldimension und Gütekriterium für Lernprozesse und Lern­arrangements in der Geragogik8 bedingt sie ein würdiges Altern durch die Mitgestaltung und „Teilhabe am gesellschaftlichen, ökonomischen kulturellen Leben“.9
Partizipativ getroffene Entscheidungen sind immer das Ergebnis von Aushandlungsprozessen, bei denen im kommunikativen Austausch Sachverhalte, die die Teilnehmenden individuell, aber auch als Gemeinschaft betreffen, ausgelotet werden, um gemeinsam für alle Beteiligten tragbare Lösungen zu finden. Das Prinzip der intergenerationellen Par­tizipation lässt sich in Musikvereinen durch ihre natürlich gewachsene Generationenvielfalt umsetzen, wenn die Vereinsstrukturen und die Probenarbeit so gestaltet werden, dass Aushandlungsprozesse zwischen den Mitgliedern möglich sind und deren Ergebnisse in die Gestaltung der Ensemblearbeit einfließen.
Dazu gehören unter Anderem Entscheidungen über strukturelle Veränderungen, aber auch über inhaltliche Fragen wie die musikalische Ausrichtung und Gestaltung des Ensembles. Diese können grundlegende Veränderungen der Ensemblekultur erfordern und bewirken. Um Partizipationsräume zu schaffen, ist jedoch eine Neuordnung der Verantwortungs- und Machtverhältnisse notwendig, bei denen die Ensembleleitung Macht abgibt und Mitglieder Verantwortung übernehmen.10 Bei der Betrachtung der Partizipationsräume der Ensembles stellt sich die Frage nach der ,Echtheit‘ der Partizipation. Wird nur das Gefühl der Partizipation (z. B. auf Stufe 4 oder 5, siehe unten) vermittelt oder sind die Machtverhältnisse tatsächlich so strukturiert, dass die MusikerInnen Einfluss auf die Gestaltung des Ensembles haben?

1 Lüscher, Kurt: „Ambivalenz der Generationen. Generationendialoge als Chance der Persönlichkeitsentfaltung“, in: Erwachsenenbildung. Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis, Heft 1, 2010, S. 9-13.
2 z. B. Overbeck, Lorenz: „Zur Bedeutung des vereinsgetragenen Amateurmusizierens in ländlichen Räumen“, 2018, www.kubi-online.de/artikel/zur-bedeutung-des-vereinsgetragenen-amateurmusizierens-laendlichen-raeumen (Stand: 1.3.2023); Bons, Verena/ Borchert, Johanna/Buchborn, Thade/Lessing, Wolfgang: „Wie verorten Mitglieder von Musikvereinen ihre Arbeit in Abgrenzung zur Praxis von Musikschulen? Eine dokumentarische Studie zu Musikvereinen im ländlichen Raum“, in: Kolleck, Nina/Büdel, Martin/Nolting, Jenny (Hg.): Forschung zu kultureller Bildung in ländlichen Räumen. Methoden, Theorien und erste Befunde, Weinheim 2022, S. 349-369.
3 vgl. Bubolz-Lutz, Elisabeth/Engler, Stefanie/Kricheldorff, Cornelia/Schramek, Renate: Geragogik. Bildung und Lernen im Prozess des Alterns: das Lehrbuch, Stuttgart 22022, S. 16.
4 vgl. z. B. Mulia, Christian: Kirchliche Altenbildung. Herausforderungen – Perspektiven – Konsequenzen, Stuttgart 2011, S. 274.
5 vgl. etwa Groote, Kim de/Nebauer, Flavia: Kulturelle Bildung im Alter. Eine Bestandsaufnahme kultureller Bildungsangebote für Ältere in Deutschland, München 2008, S. 89. In jüngerer Zeit ist die vermehrte Etablierung von Seniorenorchestern zu verzeichnen (Overbeck 2018). Ein Generationendialog ist damit jedoch nicht intendiert, weshalb sie für die vorliegenden Betrachtungen nicht einbezogen werden.
6 Meese, Andreas: „Praxissondierung und theoretische Reflexion zu Versuchen intergenerationeller Didaktik. Lernen im Austausch der Generationen“, in: DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung: Generationenwechsel, Heft 2, 2005, S. 39-41, hier: S. 40.
7 Jacobs, Timo: Dialog der Generationen. Leben, Gesellschaft, Schule. Plädoyer für eine intergenerative Päda­gogik, Baltmannsweiler 22010, S. 91.
8 Schramek, Renate/Bubolz-Lutz, Elisabeth: „Partizipatives Lernen – ein geragogischer Ansatz“, in: Naegele, Gerhard/Olbermann, Elke/Kuhlmann, Andrea (Hg.): Teilhabe im Alter gestalten. Aktuelle Themen der Sozialen Gerontologie, Wiesbaden 2016, S. 161-179, hier: S. 164; Kolland, Franz/Ahmadi, Pegah: Bildung und aktives Altern. Bewegung im Ruhestand, Bielefeld 2010.
9 Forum Seniorenarbeit NRW (Hg.): „Leitgedanke Partizipation in einer solidarischen Gesellschaft. Chancen und Herausforderungen im Zeichen der demografischen Entwicklung“, 2011, http://forum-seniorenarbeit.de/ wp-content/uploads/2014/07/2011-10-Leitgedanke-Partizipation.pdf (Stand: 3.5.2023); Schramek/Bubolz-Lutz 2016, S. 159.
10 Das konnte auch Lisa Unterberger für die Arbeit in nicht-generationenübergreifenden Jugendorchestern zeigen; Unterberger, Lisa: „Unser Orchester: unser Ding. Partizipation im Jugendorchester“, in: üben & musizieren, Heft 2, 2017, S. 44-49, hier: S. 46.

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