Röbke, Peter
Mehr als nur ein Nachfolgeprogramm
Was JeKits von JeKi unterscheidet
„Das wird jetzt nicht JeKi 2.0 sein – was das neue JeKi sein wird, werden wir erst in einigen Jahren wissen!“ Mit dieser Bemerkung über das neue JeKits hatte Manfred Grunenberg, der „Vater“ von JeKi 1.0, ins Schwarze getroffen: Bei aller notwendigen Verbindlichkeit der neuen Programmstandards, bei aller Klarheit in der Definition der neuen Rahmenbedingungen scheint der fundamentale Unterschied zwischen JeKi und JeKits darin zu liegen, dass tatsächlich nur Rahmenbedingungen definiert sind. Und das heißt: Innerhalb dieses Rahmens tun sich insbesondere für das zweite Jahr von JeKits (und dieser Beitrag handelt vor allem davon) große Spielräume auf. Und nur wenn diese Spielräume vor Ort genutzt werden, unter den konkreten Bedingungen der jeweiligen Grundschule und Musikschule, von den konkret beteiligten Lehrkräften beider Institutionen, wird das neue JeKits eine vielfarbige und vielfältige Wirklichkeit werden können.
Programmatische Mitverantwortung
Wie aber kann JeKits so auf den Weg kommen, dass vor Ort die programmatische Mitverantwortung, die didaktische und methodische Fantasie, die Bereitschaft zum musikalischen Experiment oder die Lust auf Zusammenarbeit in großem Ausmaß mobilisiert werden? Einige Vorschläge:
) Wir müssen den Diskurs über die Philosophie von JeKits führen und jene instrumentalpädagogischen Beispiele betrachten, in denen das Ineinander von Musizieren und spieltechnischer Entwicklung schon zu gelingen scheint – und dabei den eminenten Beitrag der SängerInnen und TänzerInnen, die ja neu im Programm sind, nutzen. Zu erwarten ist, dass sich in diesem Diskurs auch Widerspruch artikulieren wird, rüttelt doch die musikpädagogische Kernidee (siehe unten) durchaus an den Grundfesten ästhetischer wie pädagogischer Überzeugungen in Bezug auf Musik und Unterricht.
) Seitens der JeKits-Stiftung müssen die Vorgaben so gestaltet werden, dass ohne Abstriche an den grundlegenden musikpädagogischen und ästhetischen Zielen genügend Freiraum für didaktisch-methodische Entscheidungen ist: also für die konkrete Zeitgestaltung, für die Entwicklung einer speziellen Ensemblepraxis, für die Wahl der angemessenen Unterrichtsformen, für die reale Ausgestaltung der Lehrerrolle usw. Die ersten Schritte in diese Richtung sind getan: Teamteaching ist möglich, Ensemble und Instrumentalunterricht können auf einen Termin gelegt werden und anderes mehr.
) JeKits muss die Teams vor Ort ermuntern, nicht nur musikpädagogische Vorstellungen umzusetzen, sondern diese standortbezogen überhaupt erst einmal zu entwickeln: Dazu dienen die speziellen Weiterbildungsformate der Stiftung wie die Praxistage oder die JeKits-Akademie, dazu müssen mehr als bisher Coaching- und Mentoring-Angebote gemacht werden. Auch hier gibt es bereits konkrete Überlegungen und erste Erfahrungen mit der Rolle von MultiplikatorInnen.
) Zur Standortbezogenheit gehört auch, die Einbettung der JeKits-Aktivitäten in das Schulleben zu betreiben, denn aus der Notwendigkeit von JeKits für die allgemeinbildenden Schule heraus, aus der Dringlichkeit für die Entwicklung von Schule als „Lebensraum“, erwachsen auch wieder Ideen etwa für die Arbeit im Ensemble, gilt es doch vielleicht Feiern zu gestalten, im Schulalltag musikalisch zu intervenieren, den täglichen Unterricht musikalisch zu beleben usw. Dabei vermute ich: Die Basis für die echte Einbindung von JeKits in die Grundschule wird wohl eine inhaltliche Klärung des Verhältnisses von JeKits und allgemeinbildendem Musikunterricht sein.
) Schließlich braucht es einen breiten Austauschprozess zwischen den vielen JeKits-„Blumen“: Plattformen für gute Praxis, Material- und Ideenaustausch, Foren für die musikpädagogische Debatte – hier ist etwa der Materialpool auf der JeKits-Website auf einem guten Weg. Unterrichtsvideos mit guter Praxis und Video-Tutorials wären ein sinnvoller nächster Schritt.
Am Ende aber geht es immer wieder um die eine Botschaft: Alle, die an JeKits beteiligt sind, ob Musikschullehrkraft oder Musikschulleitung, ob Instrumental-, Gesangs-, Tanzpädagogin oder Lehrkraft für Elementare Musikpädagogik, ob primär Ensembleleiter oder Instrumentallehrer, ob mit Musikschul- oder Grundschulhintergrund: Ihr seid nicht dazu da, die Programmstandards nur umzusetzen oder anzuwenden, sondern ihr könnt euch massiv in die Entwicklung des Programms einbringen; ihr seid nicht als ausführende Organe, sondern als kreative Köpfe, als „Reflective Practitioners“ gefordert.
Musikpädagogische Kernidee
Einige Worte zur bereits angesprochenen musikpädagogischen Kernidee: Ich nehme dafür ein Gesangsbeispiel, denn dort sind „Chor“ und „Stimmbildung“ von Haus aus nicht getrennt, anders als in der Instrumentalpädagogik, wo durchaus die Neigung besteht, Technikvermittlung im Unterricht und Musizieren im Ensemble als getrennte Welten zu sehen. Also erzähle ich von einem vorbildlichen Gesangsbeispiel außerhalb von JeKits, hatte ich doch vor Jahren das Glück, Inga Mareile Reuther vom Münsteraner JEKISS (Jedem Kind seine Stimme) bei der Arbeit erleben zu dürfen.
Die Kollegin arbeitete ein- und mehrstimmig mit inspirierenden Liedern, hielt die Gruppe immer auch in der ganzkörperlichen Bewegung und agierte vom Klavier aus, das Geschehen über eine pulsierende Begleitung unaufhörlich im Fluss haltend. Alle „Anweisungen“ wurden im Call and Response von der Leiterin gegeben und vom Chor beantwortet, alle durchaus erkennbaren Stimmbildungsübungen waren in den musikalischen Ablauf eingebettet. Nie, wirklich in keinem Moment, riss der Faden. Die Schülerinnen und Schüler empfanden vor allem, dass sie auf eine erfüllte Weise gesungen und getanzt hatten, die Lehrkraft aber hatte nicht nur dieses Singen angeleitet, sondern zugleich eine umfangreiche gesangspädagogische Agenda abgearbeitet.
Somit können wir von einer Differenz zwischen einem strukturierten und aufbauend gedachten Unterrichtsgeschehen im Kopf von Inga Mareile Reuther und der Realität eines erfüllten und nicht enden wollenden Singens in den Schülerköpfen sprechen: Da sind zwei Wirklichkeiten von Unterricht in einer einzigen Stunde anzutreffen (ich rede hier noch nicht vom Verhältnis Unterricht/Ensemble), und der Unterricht selbst kann zwischen diesen Wirklichkeiten hin- und herpendeln. Es kann aber auch sein, dass sich der Fokus von Woche zu Woche verschiebt oder aber, wie soeben berichtet, die eine Wirklichkeit eines herrlich fließenden Singens und Musizierens in der Wahrnehmung der Schüler bestand und die andere einer systematischen und aufbauenden Arbeit in jener der Lehrkraft.
Was sich hier auch andeutet, ist ein zirkuläres Verhältnis von Musizieren bzw. Singen und der Vermittlung der dafür notwendigen Technik: Keine Lehrkraft im Bereich Singen würde auf die Idee kommen, dass man erst ein Jahr lang Stimmbildung betreiben muss, bevor die Kinder im Chor singen dürfen (ich vermute, die meisten TanzpädagogInnen sehen das ähnlich und kämen nicht auf den Gedanken, die Körperschulung vom tänzerischen Ausdruck in der Gruppe sequenziell zu trennen).
Von Hause aus ist nun die Instrumentalpädagogik viel stärker einem sequenziellen Verhältnis von Technikaufbau und Musikmachen verpflichtet, einem „Erst Üben und dann Musizieren“; denn wir wissen ja, was alles passieren kann, wenn Querflötenansatz, pianistische Handhaltung oder geigerische Strichbewegungen am Anfang nicht ordentlich entwickelt werden…
Auf der anderen Seite müssen wir uns zugleich eingestehen, dass wir uns mit dieser Sorge um die richtig vermittelte Technik ein großes Problem mit der Motivation einhandeln. Wie soll jemand geduldig in musikfernen Übungen auf langen Tönen oder auf leeren Saiten spieltechnische Basics entwickeln, wenn ihm oder ihr überhaupt nicht erfahrbar und anschaulich wird, wie und warum diese im wirklichen Musizieren gebraucht werden? Instrumentalpädagogik hat dann etwas Kafkaeskes, weil die Botschaft lautet: Mühe dich redlich, strebe eifrig dem Ziel zu, aber ob du je zum Musizieren kommst, liegt im Verborgenen, so wie Kafkas Schloss…
Raus aus dem Dilemma
Glücklicherweise deuten sich verschiedene Möglichkeiten an, diesem Dilemma zu entkommen:
) Wir sehen in nicht-klassischen musikalischen Szenen, wie sich die Beteiligten überhaupt keine Gedanken über dieses Dilemma machen: Da werden Bands gegründet und Stücke bewunderter Vorbilder gecovert, und gleichzeitig wächst die Technik irgendwie mit (vor allem durch das Nachspielen von Aufnahmen); da werden dem Geigenanfänger am Musikantenstammtisch die Geigen- und Bogenhaltung sowie die notwendigen Griffe für den Nachschlag auf der ersten und fünften Stufe vermittelt, und schon steigt er in das Geschehen im Wirtshaus ein.
) Da gibt es El Sistema, das man in vielerlei Hinsicht sehr kritisch betrachten kann, das aber instrumentalpädagogisch eine heilsame Provokation darstellt: Das Orchester ist von Anfang an der Ausgangspunkt, und zwar das große, richtige Orchester. Die instrumentale Spieltechnik wird durch unterstützenden Instrumentalunterricht sowie durch Beobachtung und Nachahmung der LehrerInnen und der gleichaltrigen Peers in der Registerprobe oder am gleichen Pult erworben.
) Und in der Musikschularbeit selbst können wir schließlich beobachten, dass gerade die besonders erfolgreichen Lehrkräfte sehr darauf achten, dass das am Instrument Gelernte möglichst schnell im Ensemblemusizieren Anwendung und Weiterentwicklung findet!
Wie schon gesagt: Bei solchen Gedanken geht es vor allem bei „KlassikerInnen“ gewissermaßen ans Eingemachte. Kann man das überhaupt Musik nennen, was im Elementaren Musizieren entsteht? Kann man das überhaupt Unterricht nennen, wenn die Lehrkraft einfach nur vormacht oder nur mitmusiziert? Und ist das überhaupt Flöten- oder Geigenunterricht, wenn das Instrument nicht im Mittelpunkt steht? Hier geht es um Habitus, um tiefsitzende Einstellungen; ein ganzer Kosmos kultureller Werte, der uns „in den Knochen steckt“ und unser Verhalten vor allem dann beeinflusst, wenn er gar nicht zu Bewusstsein kommt…
Was Lehrkräfte in JeKits dennoch versuchen sollten, ist, an diesem zirkulären Verhältnis von technischem Lernen und erfülltem Musizieren zu arbeiten, sozusagen an einem „Lernenden Musizieren“ oder „Musizierenden Lernen“. Daraus folgt aber zwangsläufig, dass die Grenzen zwischen dem Orchester und dem instrumentalen Gruppenunterricht fließend sind. Der Unterschied ist in Wahrheit kein prinzipieller, sondern nur ein gradueller: Natürlich ist das Orchester in Bezug auf die vertretenen Instrumente heterogen und der Unterricht instrumentenhomogen, aber in beiden Formen geht es um das gemeinsame Musizieren und das instrumentale Lernen. Der Fokus wird im Orchester eher auf das Musizieren gerichtet sein, ohne dass aber dem Leiter oder der Leiterin die instrumentale Ausführung gleichgültig wäre – umgekehrt hat die Instrumentallehrkraft primär die richtige spieltechnische Ausführung im Auge, ohne dass sie aber darauf verzichten würde, mit ihrer Geigen- oder Flötengruppe auch richtig Musik zu machen!
Und ob Orchester oder instrumentaler Gruppenunterricht: So oder so kann das Geschehen zwischen strukturiertem Arbeiten und losgelassenem Musizieren oszillieren. Und somit sind auch die Rollen der beteiligten Lehrkräfte nicht eindeutig festgelegt, sie schwanken beständig zwischen Lehrer und musikalischem Gruppenleiter.
Erfindung des Orchesters
Der Anspruch eines „Lernenden Musizierens“ wird jedoch nur eingelöst werden können, wenn in didaktisch-methodischer Hinsicht große Freiheiten bestehen – und damit sind wir bei der „Erfindung des Orchesters“ und bei dem Gedanken einer Flexibilisierung von JeKits aufgrund der unterschiedlichen regionalen Bedingungen angelangt. Hierzu hat eine Arbeitsgruppe unter Beteiligung der Musikschulen, der Stiftung und des Kuratoriums ein Papier „Gedanken zum JeKits-Orchester“ vorgelegt, dessen Studium nur empfohlen werden kann (www.jekits.de/app/uploads/2017/06/ Gedanken-zum-JeKits-Orchester.pdf).
Die Grenzen zwischen Orchester und instrumentalem Gruppenunterricht sind fließend.
Ausgangspunkt der Orchestererfindung ist das Lehrerteam vor Ort, das sich um eine oder mehrere bestimmte Ideen von Musizieren herum gruppiert, was zunächst Folgen für die Besetzung und den äußeren Charakter des Orchesters hat: Dieses kann streicher- oder bläserlastig sein, Melodie- und Schlaginstrumente zusammenführen, das Instrumentalspiel mit Gesang und Bodypercussion kombinieren, eher eine Pop-Band oder eher ein Ethnoensemble sein oder gar eine Experimentalgruppe, die auch das Spiel mit Materialien nutzt. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Das ist aber zunächst nur die Außenseite: Welche musikalische Praxis wird denn dann konkret entwickelt – unter den Bedingungen des absoluten Beginnens, bei dem aber auch mit wenigen Tönen schon einiges geht?
Ich würde mir wünschen,
) dass in dieser Praxis nicht nur notierte Musik eine Rolle spielt, somit dem Erfinden von Musik großer Raum eingeräumt wird. Und dabei meint „Erfinden“ nicht nur das frei Improvisierte, sondern auch das ganz selbstverständliche Finden von Begleitstimmen, von Basslinien, von perkussiver Unterstützung, das Entwickeln einer Mehrstimmigkeit, für die man dann wahrlich keine Noten braucht;
) dass die Beteiligten das Gefühl haben, nicht nur Ausführende, sondern musikalische Subjekte zu sein;
) dass diese Arbeit vor allem als etwas Künstlerisches wahrgenommen wird und nicht als eine musikpädagogische Propädeutik für den späteren Umgang mit der Kunst;
) dass es um musikalisch erfüllte Momente, um Sinnlichkeit, um ein wirkliches Erscheinen des Klangs, kurz: um ästhetische Erfahrungen geht;
) dass immer wieder etwas Überraschendes oder Ereignishaftes passieren kann, also ein Zusammenspiel, das plötzlich wunderbar funktioniert, ein Klang, der wirklich schön ist, ein Rhythmus, der auf einmal zu grooven beginnt.
Das wird aber nur stattfinden, wenn alle an JeKits Beteiligten dieser Idee verpflichtet sind, die Haltung also nicht sein darf: „Ich unterrichte Geige, der Kollege unterrichtet Orchester.“ Das gemeinsame Commitment aller Beteiligten zum Herzstück „Musizieren“ ist jedenfalls die notwendige und unabdingbare Voraussetzung für die Umsetzung der JeKits-Kernidee.