Heye, Andreas

Mehrfachbelastung in der Ausbildung musikalisch besonders begabter Jugendlicher

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Lit, Münster/Berlin 2019
erschienen in: üben & musizieren 3/2020 , Seite 59

Der Frühförderung musikalisch begabter Jugendlicher haben sich in letzter Zeit verstärkt die Musikhochschulen mit Vorstu­diengängen zur Begabtenförderung und Pre-Colleges zugewandt. Mit den damit einhergehenden Problemen der Mehrfachbelastung befasst sich And­reas Heye in seiner Dissertation, die dieses Problemfeld umfassend untersucht und die verschiedenen Belastungskomponenten und Stressfaktoren unter verschiedenen Aspekten beleuchtet. Methodisch handelt es sich dabei um eine explorative Querschnittstudie mit einer multiplen Methodenkombination aus qualitativen und quantitativen Forschungsdesigns.
Da die Mehrfachbelastung aus der Summe heterogener Stressfaktoren resultiert, werden die unterschiedlichen Belastungskomponenten statistisch mit Hilfe von Fragebögen zur Erfassung der Lebensqualität und zum Elternbild erhoben und durch qualitative Angaben aus Einzel- und Gruppeninterviews ergänzt. Das gleichzeitige Studium an einer Regelschule (Gymnasium) und in einem speziellen Studiengang einer Musikhochschule löst Zeitstress, Leistungsstress und sozialen Stress aus. Die Angaben dazu betreffen unterschiedliche Lebenskontexte (Schule, Freizeit, Familie, Studium) und werden aus verschiedenen Blickwinkeln (Selbsteinschätzung, Sicht von Eltern, Geschwistern, Hauptfachlehrern, einem Schulmusiklehrer und Experten) erhoben.
Die insgesamt 50 befragten Personen (darunter 22 Jungstudierende) liefern umfassendes Datenmaterial zur Einschätzung und Bewertung der einzelnen Belastungskomponenten.
Die sorgfältig dokumentierte Studie beschreibt akribisch die einzelnen Schritte der Datengewinnung und -auswertung unter der jeweils gewählten Perspektive, was jedoch zu einer gewissen Redundanz der Aussagen führt. Aber die zahlreichen Zusammenfassungen zu allen Kapiteln und Unterkapiteln erleichtern es, sich ein umfassendes Bild der Ergebnisse zu machen, ohne alle Details nachvollziehen zu müssen.
Prominent ist das Problem der Zeitkoordination. Erstaunlich daher, dass die Teilnehmenden insgesamt eine überdurchschnittliche Lebensqualität auszeichnet. Diese zeigt dabei eine hohe Korrelation zur Beziehungsqualität der Eltern, die ihre Kinder in der Regel nach Kräften unterstützen, aber der schulischen Ausbildung Vorrang vor der Musikkarriere einräumen.
Bemerkenswert ist ferner, dass die Eltern eher dazu neigen, die Gesamtbelastung ihrer Kinder zu unterschätzen, die eine hohe Leistungsbereitschaft auszeichnet. Umso mehr belastet sie der hohe Übedruck, dem die Hochschullehre kaum etwas mit methodischen Hilfen entgegensetzt. Die meist hohen perfektionistischen Leistungsansprüche machen die Jungstudierenden zu einer Risikogruppe hinsichtlich ihrer Stressbewältigung, obwohl die Mehrheit keine chronische Überlastung bei sich wahrnimmt. Eine Lösung der Belastungsproblematik könnte in der Förderung an speziellen Musikgymnasien liegen, die mit einer Musikhochschule kooperieren, um institutionelle und organisatorische Erwartungskollisionen zu vermeiden.
So verdienstvoll diese Grundlagenstudie ist, sie kann nur quantitative Angaben erfassen, ohne die personalen Voraussetzungen zur Qualität des Übens oder bei der Stressbewältigung zu berücksichtigen. Und für die quantitative Analyse sind die Fallzahlen meist zu klein, um allgemeingültige Aussagen treffen zu können. Als Resultat erweiterter Fallstudien weisen die Befunde aber deutlich die Problemfelder aus, die im Zuge einer angemessenen Frühförderung gelöst werden müssen.
Wilfried Gruhn