Schiffels, Herbert

Melodien verstehen

Wie Solmisation den (Instrumental-)Unterricht bereichern kann

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 6/2024 , Seite 26

Schülerinnen und Schüler nehmen Unterricht, weil sie Klavier, Trompete oder Singen lernen wollen – nicht um zu solmisieren. Wenn Sie Solmisation im Unterricht einsetzen, dann müssen Ihre SchülerInnen verstehen und erleben, dass dies für sie ­hilfreich ist. Was also bringt Solmisation?

Szenario 1: Vor Ihnen sitzt ein Chor, Sie summen einen Ton und zeigen dann die Handgesten 1-3-2-4-3-5-4-2-1. Daraufhin singt der Chor, beginnend mit dem vorgegebenen Ton: do-mi-re-fa-mi-so-fa-re-do. Die Sängerinnen und Sänger haben also die Folge der Handgesten in eine Tonfolge „übersetzt“. Das konnten sie, weil sie eine innere Tonvorstellung entwickelt haben und die verschiedenen Töne benennen können. Dabei spielt es keine Rolle, ob der vorgegebene Ton ein C, ein A oder ein Des war. Niemand wird beim Singen gedacht haben: Ich singe jetzt C-E-D-F-E-G-F-D-C oder A-Cis-H-D-Cis-E-D-H-A oder Des-F-Es-Ges-F-As-Ges-Es-Des.
Wie ist das zu erklären? Die kleine Melodie ist ein Beispiel für eine ganzheitliche Wahrnehmungseinheit. Ganzheitliche Wahrnehmungseinheiten heißen in der Kognitionspsychologie Gestalten. Das Gestaltprinzip bedeutet, dass wir Informationen in zusammenhängenden, organisierten Mustern erkennen. Melodien nehmen wir als transpositionsunabhängige Gestalten wahr. Mit anderen Worten: Wir erkennen die Melodie an ihrer Struktur, unabhängig von ihrer absoluten Tonhöhe. Für Kinder könnte man es so formulieren: „Einer Melodie ist es egal, in welcher Tonart sie erklingt.“ Deswegen benutzen wir in der Solmisation tonartunabhängige Namen.
Szenario 2: Vor Ihnen sitzen einige Schülerinnen und Schüler des Chores aus Szenario 1, die Instrumentalunterricht bekommen. Als Gehörübung spielen Sie auf dem Klavier die Töne Ges-B-As-Ces-B-Des-Ces-As-Ges; auf die Frage: „Was habe ich da gespielt?“ erhalten Sie die Antwort: „do-mi-re-fa-mi-so-fa-re-do“. Dann spielen Sie die Töne C-E-D-F-E-G-F-D-C und wieder ist die Antwort: „do-mi-re-fa-mi-so-fa-re-do“, obwohl alle Tasten bzw. Töne andere waren als in der ersten Übung. Die Antwort ist beide Male aus den bereits genannten Gründen richtig. Wir dürfen die kleine Melodie nicht verwechseln mit den Tonhöhen, mit denen sie hörbar gemacht wurde.
Die SchülerInnen aus Szenario 2 haben den Sinn der Solmisation verstanden, der Nutzen ist ihnen bewusst. Auf die Frage „Wozu ist Solmisation gut, warum machen wir das?“ können sie antworten:
a) Mit den sieben Solmisationssilben haben wir eine von der konkreten Lage der Töne auf dem Instrument unabhängige Tonvorstellung, mit der wir Melodieverläufe präzise benennen können.
b) Mit den Tonsilben bringen wird das Gehörte auf einen gemeinsamen Nenner. Besonders hilfreich ist das im Zusammenspiel von transponierenden Instrumenten.

Die Hand als ­Vorstellungshilfe

Ein Kind hat „Oh when the Saints“ in D-Dur auf dem Klavier gelernt. Wenn es sich die Melodie innerlich vorstellt, lokalisiert es die Töne im Geiste auf den Tasten in D-Dur. Wenn eine Geigenschülerin sich diese Melodie vorstellt, lokalisiert sie die Töne im Geiste auf der D- und A-Saite, wenn sie die Melodie so gelernt hat. Aber „Oh when the Saints“ ist nicht an D-Dur gebunden. Wie könnten der Klavierschüler und die Geigenschülerin sich die Melodie tonartunabhängig vorstellen, also mit den Solmisationssilben do-mi-fa-so usw.?
Stefan Gies erwähnt in seinem Beitrag „Alte Eisen der Musikpädagogik?“1 die „guidonische Hand“.2 Das pädagogische Potenzial dieser Methode wurde bislang noch gar nicht ausgeschöpft. Dabei kann die „guidonische Hand“ in zeitgemäßer Form realisiert die Wirkung und den Nutzen der Solmisation potenzieren!

1 Gies, Stefan: „Alte Eisen der Musikpädagogik? Von Curwen bis Gordon: zur Aktualität historischer Konzeptionen“, in: Musik & Bildung, 3, 2001, S. 16-23.
2 Guido von Arezzo hat bekanntlich vor 1000 Jahren die Notenschrift und dazu das Prinzip der Solmisation erfunden. Weniger bekannt ist die Methode, mit der er unterrichtete. Wer sich dafür interessiert, findet reichhaltiges Material zu Guidos genialen Innovationen in: Smits van Waesberghe, Joseph: Musikerziehung. Lehre und Theorie der Musik im Mittelalter (= Musikgeschichte in Bildern. Musik des Mittelalters und der Renaissance, Band 3,3), Leipzig 1986.

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