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Kirschning, Antje

#MeToo an den Musikhochschulen

Ein Wertekodex als Meilenstein auf dem Weg zu professionellem Umgang mit Nähe und Distanz

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2018 , Seite 44

„Eine Studentin erinnert sich an eine Vergewaltigungsszene, die ein Pro­fessor wieder und wieder einstudieren ließ. ,Ich stand an der Säule, und mein ­männlicher Kommilitone sollte mich >nageln<, so nannte es der Dozent‘, erzählt sie. ,Nach Meinung des Professors hat sein Becken aber nicht ­authentisch genug gegen meins geknallt. Also stellte sich der Pro­fessor hinter den jungen Mann und zeigte, wie man es richtig macht.‘“

Diese Szene, beschrieben in einem Spiegel-Artikel vom 12. Mai 2018, ist eines der harmloseren Beispiele für körperliche Übergriffe, getarnt als Übung für die Opernbühne. Unter der Überschrift „Sex im Präsidentenbüro“ wird beschrieben, wie an der Hochschule für Musik und Theater München zwei Profes­soren über Jahre hinweg ihre Machtposition sexuell ausgenutzt haben. Das Nachrichten­magazin berichtet von Pornos zum Lockerwerden fürs Komponieren, Einzelunterricht im Schlafzimmer und Affären mit Studen­tinnen.1 Einer der Beschuldigten, der ehemalige Hochschulpräsident Siegfried Mauser, wurde vier Tage nach Erscheinen des Artikels wegen sexueller Nötigung in drei Fällen zu zwei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt.
Mit diesem Spiegel-Artikel und dem Gerichtsurteil ist die Me-Too-Debatte nun in den künstlerischen Hochschulen im deutschspra­chigen Raum angekommen. Endlich! Schon seit zwei Jahrzehnten klären die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten dieser Hochschu­len präventiv zu sexualisierter Belästigung und Gewalt auf. Sie entwickeln gemeinsam mit Ratsuchenden individuelle Lösungen für eine unerträgliche Situation. Dies geschieht stets vertraulich, das heißt fast unbeachtet von der (Hochschul-)Öffentlichkeit. Jetzt hat die Spiegel-Story gleichsam wie ein Paukenschlag alle Musikhochschulen aufgeschreckt.
Das birgt Chancen und Risiken. Erfreulich ist: Das Tabu ist gebrochen. Oberstes Ziel muss nun sein, dass sich für Studierende im Falle einer Belästigung die Lage verbessert, das heißt, dass sie ihren Lehrer oder ihre Lehrerin wechseln dürfen und deshalb keine Nachteile zu befürchten haben. Bisher wird in der Regel ein anderer Vorwand genannt, um individuell Abhilfe zu schaffen. Verheerend daran ist, dass die Beschuldigten sich mit den Vorwürfen nicht auseinandersetzen müssen, folglich kein Unrechtsbewusstsein entwickeln und weitere Studierende nicht geschützt werden. Ein Ausweg aus dieser per­fiden Schweigespirale ist, die Angst vor negativen Konsequenzen zu überwinden. Denn nur sie gibt den Tätern so viel Macht.2 Hier müssen Richtlinien zum Umgang mit sexualisierter Belästigung und Gewalt Abhilfe schaffen, die jetzt allerorten und völlig zurecht gefordert werden.

Die Spitze des Eisbergs

Das Ausmaß, das im Spiegel beschrieben wird, mag manche erschrecken. Doch kleine Grenz­verletzungen sind an Musikhochschulen alltäglich. Die besonderen Bedingungen, die Machtmissbrauch beim Unterricht an künstlerischen Institutionen begünstigen, sind in den Handlungsempfehlungen zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt der Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen (BuKoF) anschaulich beschrieben.3
Moritz Eggert, Professor für Komposition an der Münchner Musikhochschule, hat sich im Münchner Gerichtsprozess mutig geäußert. Er ist überzeugt, Siegfried Mauser und Hans-Jürgen von Bose seien keine Einzelfälle. Solches Verhalten gäbe es an allen Musikhochschulen – in Deutsch­land und anderswo. Bisher habe es jedoch keine Konsequenzen ­gegeben, weil niemand negative Publicity wolle.4
In diesen Tagen werde ich oft gefragt: „Gibt es solche Fälle wie in München auch bei euch in Berlin?“ Diese Fragestellung geht am Kern des Prob­lems vorbei. In London gab es bereits 2013 einen ähnlichen Skandal mit hohen Haftstrafen. Eine Fragestellung, die uns weiterbringt, lautet vielmehr: Wird an meiner Hochschule auch weggeschaut und ge­schwie­­gen? Letztlich muss sich jede und jeder fragen: Nehme ich in meinem Umfeld etwas wahr, was nicht in Ordnung ist? Und traue ich mich, das anzusprechen?

Selbstreflexion und Wertekodex

Als Frauenbeauftragte, die sich seit vier Jahren intensiv mit dem Thema auseinandersetzt, bin ich zu der Überzeugung gekommen: Wir brauchen einen Mentalitätswandel. Den leiten wir am besten mit einer ernsthaften Debatte ein, welche Werte neben der künstlerischen Exzellenz an Musikhochschulen vermittelt werden. Wir müssen uns verständigen, wie wir mit Vorwürfen umgehen gegenüber einem Verhalten von Lehrenden, das unter pädagogischen Gesichtspunkten völlig inakzeptabel ist.
Wie gestalten wir den Rahmen von Einzel­unterricht in Privaträumen oder gemeinsamen (Konzert-)Reisen und Feiern nach einem gelungenen Auftritt? Wie stellen wir auf der Bühne z. B. eine Vergewaltigung dar? Was wird direkt gezeigt, was mit anderen, krea­tiven Stilmitteln angedeutet? Welche Geschlechterrollen oder andere Stereotypen werden mit der jeweiligen Darstellungsform reproduziert? Wie viel darf der Regisseur oder die Regisseurin alleine entscheiden und wie viel dürfen die Darstellenden mitbestimmen? Wie werden Hass und Gewalt oder erotische Szenen geprobt? Wie viel Zeit bleibt, um über Gefühle zu sprechen, die solche emotionalen Situationen auslösen?
Lehrende sollten sich fragen, wie sie aus heutiger Sicht beurteilen, was sie während der eigenen Ausbildung vor zehn oder auch 30 Jahren erlebt haben. Wie hat der gesellschaftliche Wandel die eigenen Überzeugungen verändert – oder auch nicht? Dabei kann auch Unangenehmes zutage kommen.
Bei so einer selbstkritischen Reflexion müssen wir miteinander respektvoll und nachsichtig umgehen. Wenn das gelingt, können wir viel voneinander lernen. Am Ende dieser Auseinandersetzung sollte an jeder Hochschule ein Wertekodex stehen mit eindeutigen Verhaltensregeln. Alle Lehrenden sollten ihn im Sinne einer Selbstverpflichtung unterschreiben.5

Berufliche und private Sphären trennen

Ein Risiko bei der aktuell aufgeheizten Debatte besteht darin, dass bestimmte Hochschultypen oder Unterrichtsformen pauschal verurteilt werden. Moritz Eggert kritisiert, dass jetzt durch reißerische Berichterstattung der Eindruck entstehe, Einzelunterricht sei dekadent und sexualisiert. Tatsächlich ist er in den meisten Fällen einwandfrei und die Leh­renden leisten sehr gute pädagogische Arbeit.
Das Thema ist vielschichtig. Noch komplizierter wird es dadurch, dass sich beim gemeinsamen Musizieren Menschen näher kommen, Freundschaften entstehen, Affären und auch Liebesbeziehungen. Das ist schön und soll auch weiterhin passieren dürfen. Es gibt aber eine Ausnahme: wenn eine Abhängigkeit besteht. Solange eine Person die andere offiziell benotet, ist das Verhältnis nicht gleichberechtigt. Ein sexuelles Verhältnis zwi­schen LehrerIn und SchülerIn ist tabu. Entweder die Beteiligten warten ab, bis das Stu­dium abgeschlossen ist, oder die Lehrperson beantragt einen Wechsel und macht das Verhältnis auch im Kollegium transparent. Übrigens hat Mauser die Zahl seiner Affären mit über 100 beziffert. Er sagte dazu im Prozess laut Süddeutscher Zeitung aus, er sei frei erzogen worden, um ihn herum sei eine „Atmosphäre der Verführung und Verführbarkeit“ entstanden. Immerhin gesteht er zu, er habe zwischen privaten und beruflichen Sphären nicht scharf genug getrennt.6 Wie kann ein Mensch, der viele Jahre eine Musikhochschule geleitet hat und Mitglied in Dutzenden Gremien und Jurys in der klassischen Musik war, derart unreflektiert sein?
Oft verteidigen sich Beschuldigte, ihre Opfer seien doch volljährig gewesen. Alle wissen: Studierende sind Schutzbefohlene. An Ausbildungseinrichtungen haben Lehrende eine besondere Verantwortung und Fürsorgepflicht. Immer wieder höre ich das „Argument“, Studierende müssten sich später auch z. B. auf der Bühne nackt ausziehen, deshalb sollten sie sich jetzt nicht so anstellen. Ein Professor sagte mir neulich, er sähe seine Aufgabe genau darin, den Studierenden beizubringen, ihre persönliche Grenze wahrzunehmen und entsprechend „Stopp“ zu sagen. Eben dies sei sein Auftrag.

Professioneller Umgang mit Nähe und Distanz

Einerseits ist die Begegnung mit Menschen aus verschiedenen Kulturen normal geworden, gerade an den international geprägten Musikhochschulen. Andererseits reicht unser Wissen über Codes von anderen Kulturen für die Verständigung oft nicht aus: Die Sprache wird nicht verstanden, Gesten werden falsch gedeutet. Der Umgang mit Autoritäten, Lob und Kritik, Nähe und Distanz ist verschieden. Deshalb entstehen im Hochschulalltag in internationalen, multikulturellen Gruppen oft kleine Missverständnisse und größere Konflikte.
Darüber zu sprechen, ist schon in der Muttersprache nicht einfach – doch wie schwer ist es erst in einer fremden Sprache? Wir müssen lernen, uns darüber auszutauschen. Das geht nur mit professioneller Unterstützung
in einem geschützten Rahmen. An Universi­täten lernen Studierende wissenschaftliches Arbeiten. Genauso muss es an Musikhochschulen Einführungen geben in den professionellen Umgang mit Nähe und Distanz. Der Umgang mit den persönlichen körperlichen und seelischen Grenzen muss in Rollenspielen geübt und immer wieder trainiert werden bzw. Situationen aus dem Studienalltag müssen reflektiert werden. Die Musikhochschule Hanns Eisler bietet inzwischen ein entsprechendes Seminar mit Wahrnehmungsübungen, Körperarbeit und Selbstreflexion an. Diese Themen müssen in den Curricula aller Musikhochschulen fest verankert werden.

Alle Lehrenden sollten sich frühzeitig mit dem Thema Nähe/Distanz auseinan­der­setzen.

Alle Lehrenden sollten sich frühzeitig mit dem Thema Nähe/Distanz auseinandersetzen, bevor es schlimme Vorwürfe oder einen Skandal gibt. Denn die Beschäftigung mit dem Körper ist im Musikunterricht immer präsent: Lockerungsübungen, Atemtechniken, Fingerhaltungen, Körperpräsenz für den Auftritt etc. sind unabdingbar. Berührungen durch die Lehrperson finden häufig und oft ganz selbstverständlich statt. Der Übergang zwischen unbefangenem Körperkontakt und einer Grenzverletzung ist fließend. Klar ist, hier trägt die Lehrperson die Verantwortung. Der erste Schritt klingt banal, er wird dennoch selten unternommen: Lehrende sollten von sich aus das Thema ansprechen und dabei gegebenenfalls auch ihre Unsicherheit thematisieren. Es gibt verschiedene Arten von Berührungen: harmlose und anzügliche. Entscheidend ist beim Unterrichten: Berührungen sollten sachdienlich sein, das heißt den Studierenden helfen und nicht der Befriedigung der Bedürfnisse von Lehrenden dienen!
Soweit im Musikunterricht Anfassen erforderlich ist, z. B. für Haltungskorrekturen, sollte dies vorher angekündigt und begründet werden. Es sollte sich auf das Notwendige beschränken. Lehrpersonen sollten vorher fragen, ob Anfassen in Ordnung ist. Dies darf niemals eine rhetorische Frage sein! Aufschlussreich sind auch die nonverbalen Reaktionen.
Von Seiten der Lehrenden ist eine neue Art der Kommunikation notwendig, eine andere Haltung. Sie wissen die Antwort vorher nicht. Deshalb fragen sie ja nach. Die Frage darf mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden. Wichtig ist für den zweiten Fall, dass Lehrende auch andere Möglichkeiten parat und Alternativen vorbereitet haben. Atmung lässt sich auch mit Bildern, Filmen oder an ­einem medizinischen Modell veranschaulichen. Jede Lehrperson sollte sich ab und zu Feedback von den Studierenden holen mit der inneren Haltung, dass wir immer auch voneinander lernen. Diese gegenseitig wertschätzende Kultur ist nach meinem Eindruck an Musikhochschulen noch sehr zurückhaltend, um es vorsichtig auszudrücken. Lehrende sollten sich hierzu regelmäßig weiterbilden.

Bundesweite Kampagne

Jede Hochschule muss Prävention betreiben. Viel effektiver wäre es jedoch, wenn die deutschen Musikhochschulen dabei gemeinsam vorgehen würden. Eine bundesweite Kampagne für einen respektvollen Umgang von Musikerinnen und Musikern würde ein Zeichen setzen, das international beachtet werden würde. Es würde auch auf die Musikschulen und den Konzertbetrieb ausstrahlen. In anderen Bereichen wie z. B. im Sport gibt es solche Initiativen längst. Die Zeit dafür ist reif. Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hat im April 2018 bereits den Auftakt gemacht und eine Empfehlung verabschiedet.7
Ein wesentlicher Aspekt des Skandals von München ist, dass viele Menschen von den Grenzverletzungen und sexualisierten Belästigungen oder der Gewalt gewusst haben. Sie haben jedoch lediglich hinter vorgehal­tener Hand darüber gesprochen. Wegsehen und Schweigen ist eine Form von unterlassener Hilfeleistung. Jemand muss sich den Tätern in den Weg stellen, sie früh genug darauf hinweisen, dass sie zu weit gehen. Meines Erachtens machen sich alle, die solch einen Kollegen – oder eine Kollegin – nicht zur Seite nehmen und ermahnen, mehr oder weniger mitschuldig. Denn wie sollen sich Studierende wehren, die von ihrem Professor oder ihrer Professorin abhängig sind, wenn niemand im Kollegium genug Zivilcourage hat, es anzusprechen?
An dieser Stelle möchte ich den Frauen danken, die den Mut gehabt haben, sich juristisch zur Wehr zu setzen. Sie haben sehr viel ins Rollen gebracht. Wir sollten nun gemeinsam die Chancen nutzen, die sich angesichts der Me-Too-Debatte langfristig aus dieser historisch einmaligen Situation ergeben.

1 Martin Knobbe/Jan-Philipp Möller: „Sex im Präsidentenbüro. Pornos im Unterricht, sexuelle Experimente, mutmaßlich Vergewaltigungen: An der Musikhochschule in München herrschten offenbar unglaubliche Zustände“, Magazin Spiegel vom 12. Mai 2018, S. 50; www.spiegel.de/spiegel/sex-skandal-an-der-musikhochschule-muenchen-a-1207253.html (Stand: 6.6.2018).
2 Broschüre Nein heißt nein der Musikhochschule Hanns Eisler, Berlin 2016, S. 19; www.hfm-berlin.de/ hochschule/struktur/frauenbeauftragte/sexualisierte-diskriminierung (Stand: 6.6.2018).
3 Handlungsempfehlungen der BuKoF zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an künstlerischen Hochschulen, 21.7.2016; https://bukof.de/wp-content/uploads/16-07-21-BuKofHandlungsempfehlungen-Sexualisierte-Diskriminierung-und-Gewalt_Kunsthochschulen.pdf (Stand: 6.6.2018).
4 Moritz Eggert, „#MeToo an Münchner Musikhochschule – ,Ich schäme mich dafür‘“, 14.5.2018; www.deutschlandfunk.de/metoo-an-muenchner-musikhochschule-ich-schaeme-mich-dafuer.1993.de.html?dram:article_id=417934 (Stand: 6.6.2018).
5 Der deutsche Bühnenverein hat am 8. Juni 2018 einen „Wertebasierten Verhaltenskodex zur Prävention von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch“ entwi­ckelt, der einen Verständigungsprozess und einen ­progressiven Umgang aller MitarbeiterInnen an den Theatern und Orchestern in Gang setzen soll: www.buehnenverein.de/de/sonderseiten/wertebasierter-verhaltenskodex.html (Stand: 20.6.2018).
6 Ralf Wiegand/Susi Wimmer: „Ex-Präsident der Münchner Hochschule für Musik muss in Haft“, Süddeutsche Zeitung vom 16. Mai 2018; www.sueddeutsche.de/muenchen/prozess-mauser-haft-urteil-1.3983187 (Stand: 6.6.2018).
7 HRK-Empfehlung vom 24. April 2018; www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-01-Beschluesse/HRK_MV_Empfehlung_sexBelaestigung_24042018.pdf (Stand: 6.6.2018).

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