Barry, Gerald

Midday

for solo piano

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2015
erschienen in: üben & musizieren 1/2016 , Seite 55

Der 1952 geborene irische Komponist Gerald Barry, der als Studierender vielfältige Anregungen bei Peter Schat, Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel sowie Friedrich Cerha erhielt, hat sich vor allem als Opernkomponist einen Namen gemacht. Doch auch zahlreiche kammermusikalische Arbeiten und Klavierkompositionen umfasst sein Werk­katalog. Im Auftrag des irischen New Ross Piano Festival schrieb Barry 2014 sein etwa neun Minuten Aufführungsdauer beanspruchendes Klavierstück Midday, dessen Notentext hier erstmals veröffentlicht wird.
Technisch schwer mutet Barrys Klavierkomposition keineswegs an, braucht jedoch bei der Ausführung höchste Konzentration, Gestaltungsfähigkeit und zeit­liches Abwartevermögen. Denn bei Midday handelt es sich um eine Musik, in der Pausen dominieren, während die Noten nur spärliche Klangereignisse in einer stillen Landschaft bilden. Den vielleicht darüber ungeduldig werdenden Spieler ermahnt der Autor gleich anfangs: „Do not shorten Silences“. Die isoliert stehenden, meist leise zu spielenden Tongruppen sind als Signale aus der Ferne gedacht, sollen jedoch trotzdem nicht verschwommen erklingen, sondern beim Vortrag mit großer Deutlichkeit gezeichnet werden. „No pedal – ever“ lautet eine weitere Spielanweisung zu Beginn des Notentextes, und um schon die Versuchung zum Gebrauch der Pedale zu unterbinden, setzt der Komponist mahnend hinzu: „Keep your feet far away from them“.
All diese Eigentümlichkeiten – und auch die zu Beginn und Ende in minimalistischer Manier geforderten vielfachen Wiederholungen von Taktgruppen – haben ihren tieferen Sinn darin, dass es sich bei Midday um eine programmatisch inspirierte Komposition handelt. Dies verrät der Notentext mehrfach, wenn er die einzelnen Kurzmotive mit dem Hinweis verbindet, sie sollten wie von Blasinstrumenten ertönen. Dem Spieler bleibt die Aufgabe, diese Vorstellungen des Komponisten („Bassoons“, „Distant Horns“, „Distant Trumpets“) mit pianistischen Mitteln überzeugend zu realisieren. Dabei muss der Interpret sich geistig in die Rolle einer Person versetzen, welche die Bewegung einer Armee von Kriegern wahrnimmt, „standing still in the landscape, listening, watching, waiting“.
Ein Fantasieprodukt des Komponisten ist diese imaginierte Situation zwar, doch konkret festgemacht an einem datierbaren historischen Geschehen: der Landung der Normannen an der südostirischen Küste im Jahr 1169. Auch eine unmittelbare Bildvorlage existiert für Midday: Es handelt sich um einen der Wandteppiche des 1998 begonnenen „Ros Tapestry Project“, in welchem die Geschichte der normannischen Invasion in Irland dargestellt ist.
Gerhard Dietel