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Sobirey, Wolfhagen

Mind the Gap!

Gedanken zum Mangel an qualifizierten BewerberInnen an Musikschulen

Rubrik: Kulturpolitik
erschienen in: üben & musizieren 5/2021 , Seite 42

In diesem Beitrag geht es um Gründe, die aus Sicht des Autors zu einem Mangel an qualifizierten BewerberInnen an Musikschulen führen. Dabei werden unter anderem Studieneingangshürden sowie mangelnde pädagogische Qualifizierungen und Interessen der StudienabsolventInnen diskutiert.

„Mind the Gap!“, tönt es aus den Lautsprechern in der Londoner U-Bahn: eine Warnung vor dem großen Spalt zwischen Zug und Bahnsteig. Mir fällt dabei sofort ein anderer Gap ein, von dem ich in einem Beitrag über die Ausbildung von MusikpädagogInnen gelesen hatte: Der „Gap zwischen Studienprogrammen und Arbeitsrealität im Feld Musik“.1 Der Verband deutscher Musikschulen (VdM), ein Grundpfeiler unserer Musik-Bildungslandschaft mit über 930 Mitgliedsschulen, 4000 Unterrichtsstandorten, einer hohen Nachfrage von über 1,4 Millionen Schülerinnen und Schülern, dieser VdM klagt über einen Mangel an Lehrkräften bzw. BewerberInnen? Was könnten Gründe sein?

1. Fehlende Festanstellungen und nicht leistungsgerechte Vergütungen

Die VdM-Musikschule als „öffentliche Mu­sikschule für alle“ ist eine Musikschule von gesamtkommunalem Nutzen: Unterricht für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, für alle Motivationen und Leistungsbedürfnisse, Begabtenförderung und Breitenarbeit, von der musikalischen Grundausbildung bis zur Studienvorbereitung, inklusive Unterrichtsangebote, Unterricht mit Zuwanderern, Kooperationen mit Kitas und Schulen, Angebote in Alteneinrichtungen etc. Doch dafür fehlen Festanstellungen. Nur rund 50 Prozent der VdM-Lehrkräfte sind sozialversicherungspflichtig festangestellt. Die andere Hälfte arbeitet als Honorarkraft.2 Festanstellungen geben den Lehrkräften einerseits existenzielle Sicherheit. Andererseits bieten sie erst die Voraussetzung, so arbeiten zu können, wie es das Konzept der VdM-Musikschule verlangt. Zusammenarbeit des Kollegiums in Konferenzen und Arbeitsgruppen, bei Veranstaltungen, bei der Besetzung der Schülergruppen und Ensembles wird in der VdM-Musikschule erwartet und bei festangestellten Lehrkräften als „Zusammenhangstätigkeit“ auch zusätzlich vergütet.
Allerdings entspricht die Vergütung bei Anstellung nach TVöD 9 in keiner Weise den vielfältigen Leistungsanforderungen in der „Musikschule für alle“. Mit dem Vergütungsproblem sehen sich Musikschullehrkräfte besonders in Kooperationen konfrontiert, wenn eine Musikschullehrerin mit einer Grundschullehrerin als Team gemeinsam eine Klasse unterrichtet, die eine nach TVöD 9 bezahlt wird, die andere hingegen nach TVöD 12. Das sind je nach Stufe mehrere hundert Euro Unterschied.3 In Hamburg ist für das Kollegium der Jugendmusikschule mittlerweile immerhin TVöD 10 geöffnet worden und in diese Richtung – TVöD 10, 11 etc. – muss die Tarifentwicklung auch gehen. Auch mit Blick auf die lange Ausbildungsdauer: Nur mit jahrelangem Instrumentalunterricht, täglichem, oft stundenlangem Üben schon während der Schulzeit kann die Eignungsprüfung vor Beginn des Musikstudiums bewältigt werden.
Noch schlechter steht es um die fast 50 Prozent der LehrerInnen, die als Honorarkraft beschäftigt werden, weil Festanstellungen fehlen. Nur durchschnittlich 23 Euro vor Steuer gibt es für eine Unterrichtsstunde, viele erhalten nicht mal das. Selbst weniger als 15 Euro sind Realität, der Mindestlohn ist nicht fern. „Zusammenhangstätigkeiten“ werden nicht vergütet, sind daher freiwillig, somit oft selten. Als schlecht bezahltes Personal müssen Honorarkräfte zwingend zusehen, dass sie für möglichst viele Stunden wöchentlich eine Vergütung bekommen. Sie haben außerdem keinen Kündigungsschutz, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Verdienstausfall bei Krankheit von SchülerInnen, keinen gesetzlichen Mutterschutz, keine Tarifbindung der Honorare etc.
Da fällt es schwer, sich mit dem Arbeitsplatz, mit den KollegInnen und mit der Schule außerhalb der Unterrichtsstunden zu identifizieren. Das durchschnittliche Jahreseinkommen einer freiberuflichen Musiklehrkraft in Deutschland bewegt sich laut Deutschem Musikinformationszent­rum bei etwa 13500 Euro.4 Eine Vergütung nahe der Armutsgrenze. Eine Altersversorgung anzusparen, ist schwierig. Die Renten sind klein. Die nicht leistungsgerechten Vergütungen sind auch Ursache der Abwanderungsbewegung von Musikschulkräften als Quereinsteiger zum Schulfach Musik der allgemeinbildenden Schulen. Aufhorchen lässt die Entwicklung bei der Musikschule Leverkusen. Dort sollen sich die Honorare demnächst an den entsprechenden TVöD-Vergütungen von Festangestellten orientieren.

2. Zu wenig Studierende für die Instrumental- und Gesangspädagogik

Im Wintersemester 2019/20 z. B. waren in Deutschland 10720 Studierende für Inst­rumentalmusik/Orchestermusik und Gesang eingeschrieben, jedoch lediglich 4227 Studierende in künstlerisch-pädagogischen Studiengängen.5 Ähnlich sah es 2019 bei den Abschlussprüfungen aus: 2672 Abschlüsse in Instrumentalmusik/Orchestermusik und Gesang, nur 794 Abschlüsse in künstlerisch-pädagogischen Studiengängen.6 Aber: Der VdM hat über 930 Mitgliedsschulen mit 39000 Lehrkräften.7 Und er ist nicht allein: Der Bundesverband der Freien Musikschulen (bdfm) gibt 430 private Mitgliedsschulen mit 7500 Lehrkräften an.8 Der Deutsche Tonkünstlerverband (DTKV) verzeichnet 8300 Einzelmitglieder, meist soloselbstständige Instrumental- und Gesangslehrkräfte.9 Und schließlich spielen nach einer aktuellen Studie des Deutschen Musikrats zum Amateurmusizieren in Deutschland 12,1 Millionen Menschen ein Instrument.10 Dafür braucht es viele gut qualifizierte LehrerInnen.
Schon ein Blick auf diese Zahlen lässt vermuten, dass die Menge der Studierenden in künstlerisch-pädagogischen Studiengängen nicht dem Bedarf entspricht. Oder liegt es nur daran, dass zu wenig Studienplätze für künstlerisch-pädagogische Studiengänge vorgehalten werden?
Betrachtet man nur die 2274 Abschlüsse der Instrumental- und Orchestermusik (ohne Gesang) im Jahr 2019 und rechnet die Nichtorchesterinstrumente heraus, so bleiben geschätzt ca. 800 BewerberInnen auf Orchesterstellen. Dazu kommen BewerberInnen aus dem Ausland sowie AbsolventInnen früherer Jahre, die sich auf die jährlich ca. 150 freiwerdenden Orchesterplanstellen bewerben.11 Hinzu kommt, dass die Zahl der öffentlich finanzierten Orchester schrumpft, die Zahl der Studierenden in diesem Bereich jedoch steigt.12 Sollten also die Studienplätze der Instrumental- und Orchestermusik gekürzt und die Mittel in Studienplätze für künstlerisch-pädagogische Studiengänge umgewandelt werden?

1 Sascha Wienhausen/Barbara Hornberger: „Quali­tät plus – Programm für gute Lehre in Niedersachsen“. Anlagen des Selbstberichts zum Studiengang „Musikerziehung“, Hochschule Osnabrück, Insti­tut für Musik, 22.9.2017, S. 34.
2 52,09 Prozent angestellt, 47,92 Prozent Honorar; Quelle: Verband deutscher Musikschulen: Statistisches Jahrbuch 2019, Beschäftigungsverhältnisse, S. 32.
3 https://oeffentlicher-dienst.info/c/t/rechner/ tvoed/vka?id=tvoed-vka-2021&matrix=1 (Stand: 18.8.2021).
4 Musikinformationszentrum: Statistik „Freiberuflich Tätige in der Sparte Musik“, www.miz.org/ statistiken.html (Stand: 20.3.2021).
5 Musikinformationszentrum: Statistik „Studierende in Studiengängen für Musikberufe – nach Studienfächern“, www.miz.org/statistiken.html (Stand: 18.8.2021).
6 Musikinformationszentrum: Statistik „Abschlussprüfungen in Studiengängen für Musikberufe“, www.miz.org/statistiken.html (Stand: 18.8.2021).
7 Mitgliedschulen im VdM, www.musikschulen.de/ musikschulen/fakten/vdm-musikschulen/index.html (Stand: 18.8.2021).
8 Bundesverband der Freien Musikschulen (bdfm), www.freie-musikschulen.de (Stand: 18.8.2021).
9 http://dtkv.net/ORG/verband/leitbild.html (Stand: 18.8.2021).
10 Studie „Amateurmusizieren in Deutschland“, https://themen.miz.org/amateurmusikstudie (Stand: 18.8.2021).
11 Deutsche Orchestervereinigung (DOV), Auskunft am 22. März 2021.
12 Musikinformationszentrum: Statistik „Studierende in Studiengängen für Musikberufe“, www.miz.org/ statistiken.html (Stand: 20.3.2021).

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