Mahlert, Ulrich

Mit Musik ­verschmelzen

Erfahrungen und Ermöglichungen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2016 , Seite 18

Viele Menschen kennen das Gefühl, im Hören, Singen oder Spielen ge­liebter Musikstücke mit ihnen zu ­verschmelzen. Was ereignet sich da­bei? Was sind die Voraussetzungen? Wie verhält es sich im Unterricht mit solchen Gefühlen? Wie interagieren dabei Lehrer und Schüler? Welche Probleme können auf­treten? Welche Unterrichtsweisen begünstigen ein Aufgehen in Musik?

Intensives musikalisches Erleben von Musik gewinnt mitunter eine erotische Qualität. Im Hören, im Musizieren, ja sogar in der bloßen Vorstellung kann eine Musik gleichsam als Liebespartnerin erlebt werden.1 Sie erfüllt das momentane Empfinden, sie antwortet auf Gemütsbewegungen und Stimmungen, sie vitalisiert, stärkt, tröstet, schafft Erleichterung, weckt Sehnsüchte. Man will sie wieder und wieder erleben, in sie hineinhören, sie fühlen und verstehen. Man fühlt sich von ihr verstanden, findet sich mit eigenen und je nach Befindlichkeit wechselnden Regungen in ihr wieder, kommt sich selbst in ihrem Erleben näher, nimmt sich intensiver wahr und versteht sich besser.2
Eine gehörte oder vorgestellte Musik saugt sozusagen die sonst oft frei flottierenden Gemütsbewegungen auf, durchströmt sie, sodass das Hören, Vorstellen oder klangliche Realisieren der Musik als eine Verschmelzung der eigenen Emotionalität mit dem in der Musik wahrgenommenen Ausdruck erfahren wird. Dies gilt besonders für bestimmte Stellen, die uns unmittelbar berühren. Solche Stellen spiegeln diffus in uns vorhandene Empfindungen und geben ihnen eine musikalische Gestalt, sodass wir sie im Medium der Musik deutlicher und tiefer erleben. Die Gestalt gewordenen Empfindungen werden in diversen musikalischen Entwicklungen weitergeführt. Auf diesen klanglichen Reisen erleben wir, was aus unseren Empfindungen werden und mit was ihnen geschehen kann. Die Gefühle der Einheit mit der Musik erfahren dann möglicherweise nicht einfach nur Verlängerungen und Ausformungen der anfänglichen Grundbefindlichkeit, sondern sie bekommen es zu tun mit diversen Gegenkräften: Umformungen, Kontrasten, Abbrüchen, Erschütterungen, Schocks.
Wie auch immer: In Momenten des Aufgehens in Musik, aber auch in den ihnen folgenden Entwicklungen vollzieht der Wahrnehmende körperlich und mental den Tonus und die Energetik der Musik mit; er erfährt eine Dynamisierung, die den Verlauf der ­Musik unwillkürlich mimetisch nachbildet – auch dann, wenn der Körper scheinbar unbewegt scheint. Denn Musik „geht unter die Haut“. Sie schmilzt sich ein in die Physis und die Psyche derer, die sie lieben. „Musika­lische Verschmelzung“ wird mit Leib und Seele erlebt.

Eigenschaften ­musikalischer Verschmelzungen

Wie lassen sich die hier angesprochenen Er­fahrun­gen näher bestimmen? Einige Merkmale musikalischer Verschmelzungen seien genannt:
– Sie entstehen aus der Identifizierung mit einer bestimmten Musik. Identifizierung beinhaltet das positive Gefühl, mit einer Musik zusammen- und übereinzustimmen, mit ihr in einer lebendigen Beziehung zu stehen. Nicht-Berührtwerden, Gleichgültigkeit oder gar Ablehnung schließen Verschmelzung aus.
– Sie lassen sich als Resonanzphänomene3 beschreiben: Die Schwingungen des einen Körpers lösen Schwingungen im anderen aus. Musik findet Widerhall im subjektiven Empfinden, regt vielfältige Vorgänge des Mitschwingens an, bringt etwas zum Klingen im Wahrnehmenden. Das Mitschwingen mit einer Musik ist eine körperliche und mentale Antwort auf ihr lustvoll empfundenes energetisches Angebot.
– Über das unwillkürliche „Resonieren“ hinaus vollziehen musikalische Verschmelzungen sich in mimetischen Hand­lungen. Die Identifizierung mit einer Musik bewirkt über unwillkürliche, reflexhafte Impulse hinaus­gehend das Bedürfnis, sie aktiv nachzubilden – und auch umgekehrt: sich selbst ihr „einzubilden“, besonders durch Atemführung, Mimik, Gestik und durch körperliches Gestalten musikalischer Qualitäten.
–Sie sind „ganzheitlich“: Körper, Geist, Seele sind daran beteiligt. Auch „außermusikalische“ Inhalte werden eingeschmolzen: Assoziationen, Fantasien, Bedürfnisse, Ängste…
– Eine Voraussetzung ist in der Regel Wärme. Wie bestimmte Stoffe erst ab einer bestimmten Temperatur schmelzen, ereignen sich Erlebnisse des Verschmelzens besonders in einer als angenehm und warm empfundenen Atmosphäre. Das gilt für das Hören von Musik, für gemeinsames Musizieren wie auch für die Beschäftigung mit Musik im Unterricht. Wärme kann bis zur Hitze gesteigert sein. Auch in der Hitze von rauschhaftem Tumult, in extatischem, schweißtreibendem Agieren zur Musik, bei großer Lautstärke und in kollektiver Begeisterung können Menschen mit Musik eins werden.

1 dazu diverse psychoanalytisch orientierte Beiträge in: Bernd Oberhoff (Hg.): Die Musik als Geliebte. Zur Selbst­objektfunktion der Musik, Gießen 2003.
2 Der Psychoanalytiker Heinz Kohut prägte für Menschen oder Medien, die solche Erfahrungen ermöglichen, den Begriff „Selbstobjekt“. Das Ur-Selbstobjekt ist die Mutter. Sie stillt nicht nur die Bedürfnisse des kleinen Kindes, sondern ermöglicht ihm nach und nach, sich selbst deutlicher zu empfinden, verstanden zu fühlen und als Subjekt wahrzunehmen. Heinz Kohut: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Personlichkeitsstörungen, Frankfurt am Main 1976.
3 zum Begriff der Resonanz und seiner lebensphilosophischen Dimension siehe neuerdings: Hartmut Rosa: Resonanz – eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt am Main 2016; zu pädagogischen Perspektiven des Resonanzprinzips: ders./Wolfgang Endres: Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert, Weinheim 2016.

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