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Greuel, Thomas

Miteinander verbunden

Soziale und gesellschaftliche Dimensionen des gemeinsamen Musizierens

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2019 , Seite 06

Wenn Menschen in einem Chor oder Orchester, einer Band oder einer Kammermusikgruppe Musik ma­chen, handelt es sich nicht nur um ein musikalisches Geschehen, sondern auch um ein soziales: Menschen kommen zu einer Gruppe zusammen und interagieren mit­einander. Bei einer Aufführung tritt diese Gruppe zusätzlich in Inter­aktion mit einer anderen Gruppe, nämlich den Zuhö­rerinnen und Zuhörern. In jedem Fall ist das Geschehen in einen gesellschaft­lichen Kontext eingebunden.

Wenn wir die aktuellen Entwicklungen in unserer Gesellschaft (und auch anderswo in der Welt) verfolgen, finden wir genügend Anlässe, danach zu fragen, ob wir die Verantwortung für diese Entwicklungen alleine der Politik, den staatlichen Institutionen oder der Wirtschaft zuschreiben können oder ob wir selbst als Musikerin oder Musikpädagoge, eben als Teil dessen, was man „Zivilgesellschaft“ nennt, Mitverantwortung übernehmen müssen. Ich möchte mich im Folgenden den sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen des En­semble­musizierens zuwenden, und zwar aus einer Perspektive heraus, die man „sozial­pädagogisch“ nennen kann, die aber keineswegs im Widerspruch zu künst­lerischen Perspektiven steht. Im Gegenteil: Wenn ich versuche zu beschreiben und zu analysieren, was eigentlich geschieht oder geschehen kann, wenn Menschen zusammen musizieren, wird sich zeigen, wie eng künstlerische, soziale und gesellschaftliche Aspekte miteinander verbunden sind.

1. Gegenseitige musikalische Ausdrucksförderung

Musikensembles tragen dazu bei, dass sich Menschen in einer spezifischen Form „lustvoll“ zum Ausdruck bringen.1 Für die meisten Musikerinnen und Musiker wird dies von persönlicher Bedeutsamkeit sein, sonst würden sie kaum einem Musikensemble angehören. In welcher Weise das Musizieren für die Ensemblemitglieder bedeutsam ist, kann jedoch sehr verschieden sein.
So wird Ensemblemusizieren für einige Musikerinnen und Musiker vielleicht dazu beitragen, innerpsychische Spannungen abzubauen, die eigene Stimmung aufzuhellen oder Emotionen zu regulieren.2 Für andere ist das gemeinsame Musizieren möglicherweise (bewusst oder unbewusst) wichtig, um Selbstwirksamkeit zu erfahren, ein positives Selbst­konzept zu entwickeln, die seelische Gesundheit zu fördern oder um die allgemeine psychische Widerstandskraft zu stärken, die man zur Bewältigung des Lebens benötigt. Wiederum andere Ensemblemitglieder wollen mit dem Musizieren vielleicht ihre kognitiven Fähigkeiten fördern oder erhalten (z. B. die Merkfähigkeit beim Auswendig-Singen). Dies sind nur einige Beispiele dafür, welche individuellen Bedeutungen das Musizieren im Ensemble haben kann. In jedem Fall ist es mehr als nur ein äußerliches, handwerklich-technisches Tun: Es ist „Ausdruck“ eines wie auch immer gearteten „Innenlebens“.
Selbst wenn man sich nicht persönlich ausdrücken und nichts von sich mitteilen will, sondern Musik nur „um ihrer selbst willen“ macht, bringt man doch seine künstlerischen Gestaltungsabsichten zum Ausdruck. Dass der Ausdruck nicht zwingend an eine primäre Mitteilungsfunktion gebunden ist, sondern auch aus einer solchen Gestaltungsabsicht heraus erfolgen kann, unterscheidet den Menschen vom Tier und macht ihn zu einem kulturellen Wesen.3 Mit welcher Absicht ein Ausdruck auch immer verbunden ist: Es ist nicht möglich, sich nicht auszudrücken, denn der Mensch steht unter einem „Zwang zum Ausdruck“.4

So banal es klingt: In einer Musikgruppe begegnen sich Menschen aus Fleisch und Blut. Kein Online-Chat, keine SMS, keine Whatsapp-Nachricht, kein Skype-Gespräch – nichts von alldem kann solche leibhaftigen, realen Begegnungen ersetzen.

Weder die Ensembleleitung noch die einzelnen Mitglieder müssen wissen, welche Bedeutung das gemeinsame Musizieren für das individuelle Ensemblemitglied hat. Das wird oft und mit guten Gründen als „privat“ betrachtet – und kein Ensemblemitglied kann genötigt werden, sich in dieser Hinsicht zu „outen“. Möglicherweise ist es aber den Beteiligten gar nicht bewusst, wozu sie eigentlich Musik machen und was sie durch das gemeinsame Musizieren zum Ausdruck bringen. Es genügt, sich bewusst zu machen, dass hinter dem hör- und sichtbaren Tun ein persönliches, seelisch-geistiges Erleben steckt, eine Biografie und eine Vielzahl von Erfahrungen, Gedanken, Hoffnungen, Fantasien, Bedürfnissen, Zielvorstellungen, kreativen Ideen, Gestaltungsabsichten usw. Die Musik ist ein Mittel, dieses nicht wahrnehmbare „Innenleben“ in eine sinnlich wahrnehmbare Form zu transferieren.
Nun stehen uns auch zahlreiche andere Mittel zur Verfügung, um uns oder etwas „zum Ausdruck“ zu bringen. Als das wichtigste Ausdrucksmittel gilt in unserer Kultur die verbale Sprache. Aber die Sprache ist nicht für jeden, nicht für alles und nicht in jeder Situation ein adäquates Ausdrucksmittel. „Da fehlen mir die Worte“ oder „Da bin ich sprachlos“, heißt es dann. Oft sind dies besondere Momente tiefgreifender Emotionen, Momente der Begeisterung, der Erschütterung oder auch der Frustration und der Verzweiflung. Das Musizieren stellt für den Menschen eine nonverbale Möglichkeit dar, sich als kulturelles Wesen individuell zum Ausdruck zu bringen. Es trägt auf diese Weise zur „Stärkung der Autonomie“, zur „Selbstbestimmung“ und zum „Wohlergehen“ der Menschen bei.5

1 vgl. Friedrich Klausmeier: Die Lust, sich musikalisch auszudrücken, Reinbek 1978.
2 vgl. Karl Adamek: Singen als Lebenshilfe, Münster 42008.
3 vgl. Norbert Meuter: Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006, S. 119.
4 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1975, S. 323.
5 Hans Herrmann Wickel: Musik in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung, Münster 2018, S. 11.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2019.