Offermann, Thomas

Moderne ­Gitarrentechnik

Integrative Bewegungslehre für Gitarristen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2015
erschienen in: üben & musizieren 6/2015 , Seite 52

Technikkompendien für Gitarristen gibt es viele. Aber bei allem Verdienst reihen diese Bücher nur Varianten von Fingerkombinationen aneinander. Fragen wie die nach einer physiologisch unbedenklichen Haltung werden nur angerissen. Warum ist z. B. eine Haltung der Gitarre parallel zur Frontseite des Körpers und im rechten Winkel zum linken Oberschenkel problematisch? Der Grund: „In dieser Haltung  kann der Druck der Finger der linken Hand auf das Griffbrett nur dann aus dem Arm ausgeübt werden, wenn das Handgelenk vorrückt [… Die Finger können] in ihren distalen [= vom Rumpf entfernten] Gelenken beim Greifen nicht mehr gebeugt werden, womit die Zugkraft des Arms über die Fingerspitzen auf das Griffbrett unterbrochen ist.“
Entnommen ist dieses Beispiel dem Schlusskapitel von Thomas Offermanns Buch Moderne Gitar­rentechnik. Seine Bewegungslehre bezieht „den ganzen Körper mit ein und setzt sich mit den physischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten von Bewegungen am Instrument“ sowie „dem Erkennen und Vermeiden von Kompensationen“ auseinander. Im genannten Beispiel wird die Verbindung von Finger und Arm betont, denn „im Körper hängen alle Muskeln miteinander zusammen: Die Finger werden von Muskeln in den Unterarmen bewegt und kontrolliert, die Unterarme von den Oberarmen und die wiederum von den Schultern und der Rückenmuskulatur.“
So plädiert Offermann zu Recht für ein Aufgeben von isolierten Fingerbewegungen. Dieser Ansatz wird von vielen GitarristInnen seit den 1980er Jahren um­ge­setzt, als verstärkt Virtuosen aus Lateinamerika nach Europa kamen und die Spieltechnik durch stärkeren Körpereinsatz revolutionierten. Aber bisher hat noch niemand gitarristische Bewegungen so detailliert physiologisch untermauert.
Offermanns „Integrative Bewegungslehre“ befindet sich genau an der Schnittstelle zwischen Technik-Workshop mit Theorieteil und wissenschaftlicher Studie mit Praxisteil: Für einen Technik-Workshop mit Theorieteil ist das Kapitel „Physiologische Grundlagen für Gitarristen“ jedoch nicht genügend integriert. Es ist im Stil einer Seminararbeit gehalten, zusammengestellt aus physiologischen Lehrbüchern und gespickt mit lateinisch-medizinischen Fachbegriffen, die im weiteren Verlauf des Buchs nicht mehr erscheinen. Hier wird der Lesefluss unnötig gehemmt. Danach wendet Offermann nur Teile dieser Grundlagen auf Haltung und Spieltechnik an, jeweils verdeutlicht durch zahlreiche Fotos, die jedoch nicht immer aussagekräftig sind: Eine DVD wäre informativer gewesen.
Nicht immer erklärt Offermann, warum man auf eine bestimmte Art spielen sollte, sondern gibt es manchmal einfach vor. Hier schreibt er als Gitarrist, dem man aufgrund seiner Erfahrung glauben soll, diskutiert aber keine Alternativen.
Für eine wissenschaftliche Studie mit Praxisteil hingegen hat der Autor nicht gründlich recherchiert und belegt auch zu wenig. So trennt er nicht zwischen dem, was er selbst herausgefunden hat, und den Passagen, in denen er sich auf andere AutorInnen stützt. Auch wenn niemand anders so detailliert auf Physiologie eingeht wie er, wird nicht klar, welche „seiner“ Ideen bereits bei den Gitarristen erscheinen, die ebenfalls den Einbezug des Körpers statt isolierter Fingerbewegungen hervorgehoben haben, z. B. Abel Carlevaro in ­Escuela de la guitarra oder Scott Tennant in Pumping Nylon. Beide Bücher liegen auch in deutscher Sprache vor. Und schon Manfred Bartusch hat 1981 in seinem Büchlein Die linke Hand des Gitarristen die „Muskelzugwirkungen von der Fingerspitze bis zum Schultergürtel“ dargestellt.
Wichtige Studien anderer Autoren – z. B. von Lee F. Ryan (1991), Virginia Azagra Rueda (2006) oder Joseph Urshalmi (2008) – hat Offermann nicht zur Kenntnis genommen und fehlende Belege meint er durch Behauptungen ausgleichen zu können: „[D]ie linke Hand hält sich statistisch betrachtet am häufigsten in der V. bis VII. Lage auf.“ Auf welche Statistik er sich bezieht, schreibt er nicht. Dass virtuos klingende Triller über zwei Saiten „von der barocken Lautentechnik übernommen“ wurden, ist eine unter Gitarristen oft zu hörende Herleitung, die aber durch Vorworte aus Lautentabulaturen widerlegt werden kann.
So sitzt Offermann mit seiner „Integrativen Bewegungslehre“ zwischen den Stühlen von Wissenschaft und Praxis, jedoch zieht es ihn deutlich zu Letzterer hin. Und hier liegen denn auch die Stärken des Buchs, das vor allem diejenigen mit Gewinn lesen werden, die immer schon wissen wollten, welche physiologischen Grundlagen zu beachten sind, um anatomisch fundiert Gitarre zu spielen.
Jörg Jewanski