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Fischer, Michael

Moderne Antimoderne

Das Phänomen „Volksmusik“

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2024 , Seite 06

Was „Volksmusik“ ist, scheint zunächst selbstverständlich zu sein. Bilder und bestimmte Sounds drängen sich auf, Vorstellungen von dörflichen Bräuchen oder alten Traditionen werden abgerufen. Freilich ist das mit der „Volksmusik“ so eine Sache: Dieses Genre populärer Musik hat viele Seiten, von ideologischen Vereinnahmungen bis hin zu spannenden Neuaufbrüchen.

„Volksmusik“ gibt es nicht. Es gibt nur Arten von Musik und Musizierpraxen, die so bezeichnet werden. Seit wann das so ist, wer den Begriff „Volksmusik“ geprägt hat und wie er verwendet wird, ist eine spannende Geschichte. Zu Recht meinte der Wiener Volkskundler Konrad Köstlin, dass eine so bezeichnete Musik ihre „Bedeutung“ erst durch „Deutung“ erhalte, dadurch, „wer, wann und in welchem Interesse eine Musik als Volksmusik“ bezeichne.1 Mit dem Wort verknüpfen sich bis heute bestimmte stereotype Vorstellungen. Köstlin denkt an die „Anmutung von volkshafter Ursprünglichkeit, Kontinuität und Dauer“ oder an die „Thesen von der mündlichen Überlieferung und von langem Herkommen“, die der Volksmusik angedichtet worden seien. Oft wird dabei die Vorstellung einer durchgängigen „Tradition“ wachgerufen oder altes „Brauchtum“ ins Spiel gebracht. Es handelt sich um ähnliche Zuschreibungen, die auch beim „Volkslied“ vorgenommen wurden. Auch dort spielte ja das (angeblich) hohe Alter und die lange Überlieferung eine wichtige Rolle.
Der Begriff „Volksmusik“ ist jung, noch jünger als der Terminus „Volkslied“. Während vom Volkslied schon im ausgehenden 18. Jahrhundert (vor allem bei Johann Gottfried Herder) gesprochen wurde, ist von Volksmusik erst seit dem beginnenden 20. Jahrhundert die Rede. Aber nicht nur der Begriff ist neuer, als man vielleicht denkt, sondern auch die Sache selbst: Dass bestimmte Formen der Musik, Repertoires oder Musizierpraxen dem „Volk“ zugeschrieben werden, setzt ja eine Distanzerfahrung und Reflexionsleistung voraus. Die musizierende Bevölkerung hat in der Vergangenheit weder vom „Volkslied“ gesprochen noch von „Volksmusik“ – und schon gar nicht zwischen „echt“ oder „unecht“, „alt“ oder „neu“ unterschieden. Vielmehr haben die Menschen das gesungen und gespielt, was sie zur Verfügung hatten und ihnen gefiel.
Erst gelehrte Städter, in der Regel Akademiker, haben solche Differenzierungen hervorgebracht. Grenzen wurden markiert: Volksmusik im Gegensatz zur Kunstmusik der Eliten und zur Unterhaltungsmusik der sogenannten „Massen“. Zugleich wurde damit die so bezeichnete Gattung aufgewertet: Während in der Frühen Neuzeit die Musik und die Lieder einfacher Menschen in der Regel als simpel und wenig ansprechend eingeschätzt wurden, erfuhren diese kulturellen Äußerungen später eine Ästhetisierung. Die Volksmusik erhielt dabei eine neue Erlebnisqualität: Sie wurde nun als „schön“ und „edel“ wahrgenommen, die romantische Auffassung des Volkes und Volkshaften setzte sich durch.
Heute bewegt sich die Volksmusikforschung, folgt man der Kulturanthropologin und ehemaligen Leiterin des Schweizerischen Volksliedarchivs Karoline Oehme-Jüngling, zwischen medien- und globalisierungstheoretischen Ansätzen.2 Dazu gehört auch die kritische Dekonstruktion des Volksmusikbegriffs: Was Volksmusik ist oder sein soll, erschließt sich nur über ihre Deutungs- und Forschungsgeschichte, es geht in der Wissenschaft nicht um das „Wesen“ dieser Musik, sondern um ihre Funktion, die Praxis und die damit verbundenen Diskurse.

Erfundene Tradition und Authentizität

Im Zusammenhang mit der Volksmusik wird oft das Brauchtum, die Tradition, das Herkommen bemüht, um diese Musikrichtung mit einer gewissen Dignität auszustatten. Allerdings wird „Tradition“ oft mehr behauptet, als historisch nachgewiesen. Der Rückgriff auf das vermeintlich Alte und Echte erfüllt eine ideologische Funktion im Sinne einer ästhetischen, ethischen oder politischen Inwertsetzung.
Schon 1983 haben die britischen Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger auf die Wirkmacht solcher „erfundener Traditionen“ hingewiesen: Traditionen werden in der Gegenwart konstruiert, um bestimmte Normen, Strukturen oder Institutionen zu legitimieren, um Identität herzustellen bzw. Sinn zu stiften.3 Dieses Verfahren ist grundsätzlich nicht verwerflich, sondern in hohem Maße kulturell produktiv: Die „erfundenen“ Traditionen dienen der Selbstversicherung und Orientierung in der modernen Welt. Gesellschaften bedürfen immer der Legitimierung und der Sinnstiftung. Problematisch wird es dort, wo erfundene Traditionen zu Ausgrenzung, Diskriminierung und Hass führen.
Auf die Volksmusik bezogen bedeutet dies: Gerade in der Moderne lebt sie „von der Anmutung des Historischen, Eigenen, Unterscheidbaren, dessen wir heute oft bedürftig sind“, um noch einmal Köstlin zu zitieren.4 Die Suche nach unverwechselbarer Identität, die Verankerung im Herkommen bzw. in der Geschichte, sind damit ein Zeichen der Modernität. Das Motto des Eidgenössischen Jodlerverbandes beispielsweise – „Identität durch lebendiges Brauchtum“5 – ist nur in einer globalisierten und pluralisierten Welt eine plausible (obgleich problematische) Aussage.
Ähnlich wie bei der historischen Volkslied-Debatte verknüpfen sich mit der Idee einer langen Überlieferung der Volksmusik Vorstellungen des „Echten“ und „Authentischen“, also wiederum normative Ansätze. Nicht das, was das „Volk“ faktisch musizierte und rezipierte, wurde als „Volksmusik“ bezeichnet, sondern das, was die Pfleger (und Wissenschaftler) postulierten. Dies führte – im Gegensatz zu den hehren Absichten – oft zur Erstarrung einer Musikpraxis. Volksmusik als „Musik der Vielen“ wurde nicht mehr gelebt, sondern gleichsam unter höchstrichterlichem Urteil bei Wettbewerben auf- und vorgeführt. Dazu gehörte auch die richtige Bühnenkleidung, die angemessene „Tracht“, ein Requisit, um auch optisch den Schein von Authentizität zu erzeugen. Rekonstruktionen von Musik und zugehörigen Aufführungs­situationen sind aber im Grunde eher museale Veranstaltungen. Gerade das Pochen auf „Echtheit“ führt paradoxerweise zu einer hohen Künstlichkeit und Verfremdung.
Scharfe Grenzen wurden von den Vertretern der Volksmusik zur „volkstümlichen Musik“ gezogen, die in den vergangenen Jahrzehnten ein Riesenpublikum erreichte. Im Jahr 1980 beispielsweise sahen in der damaligen Bundesrepublik 13 Millionen Menschen die Sendung „Lustige Musikanten. Ein volkstümliches Konzert“: Das entsprach etwa einem Drittel der eingeschalteten Empfangsgeräte. Später konnten schon aufgrund der Ausweitung des Programmangebots durch den privaten Rundfunk derart hohe Einschaltquoten nicht mehr erreicht werden. Trotzdem sahen in Deutschland im Jahr 2005 noch 7,3 Millionen ZuschauerInnen die Sendung „Musikantenstadl“.

1 Köstlin, Konrad: „Der Wandel der Deutung: Von der Modernität der Volksmusik“, in: Haid, Gerlinde/Hemetek, Ursula/Pietsch, Rudolf (Hg.): Volksmusik. Wandel und Deutung, Wien 2000, S. 120.
2 Oehme-Jüngling, Karoline: Volksmusik in der Schweiz. Kulturelle Praxis und gesellschaftlicher Diskurs, Basel 2016, S. 100-104.
3 Hobsbawm, Eric J./Range, Terence: The invention of tradition, Cambridge 1983.
4 Köstlin, S. 129.
5 www.jodlerverband.ch/de/verband/vision-leitbild (Stand: 6.10.2023).

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