Heygster, Malte

Mozart wird zum Kollegen

Zur Geschichte der Solmisation und ihrer Bedeutung heute

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2009 , Seite 44

1.000 Jahre ist es her, dass Guido von Arezzo sein Vokabular für den vielleicht stärksten Träger von Emotion in der Musik fand, die Tonbeziehung. Seine Solmisation war bis in die Barockzeit musikalische Fachsprache neben der für die absolute, frequenzbezogene Tonortbezeichnung. Im 20. Jahrhundert fand mit der Solmisa­tion in Ungarn die umfas­sendste musikpädagogische Feldforschung aller Zeiten mit zehn Millionen Menschen statt. Malte Heygster ­erörtert, was sich daraus entwickelt hat und was Musikpäda­go­gik mit Solmisation heute ausrichten kann.

Guido von Arezzo erfand um 1000 n. Chr. seine Nomenklatur für die Beziehung der Töne zueinander. Mit seiner relativen Solmisation rückte er wahrscheinlich zum ersten Mal den musikalischen Parameter ins Bewusstsein der Musikwelt, der in diatonischer Musik wohl der stärkste Träger der Emotionen ist: Die Silben der Solmisation sind Namen für den Gefühlsgehalt der Tonbeziehungen.
Die barocke Affektenlehre kennzeichnet den tonalen Gefühlsgehalt über beschreibende Erklärungen. Etwa wird die Verbindung eines Dur-Grundtons zu der darüber liegenden großen Terz als fröhlich, vorwärts drängend etikettiert, die kleine Terz vom Moll-Grundton aus als schlaff. Solche außermusikalischen Vergleiche lenken die Wahrnehmung in den schmalen Bereich konkreter Realitäten, während Musik doch „tief und tausendfach“ (Hermann Hesse) erlebt werden will. Die Solmisation verzichtet auf Konkretisierungen und kleidet jede Tonbeziehung in zwei Silben ein. Charakteristisch für die Solmisationsnamen ist, dass sie nicht gesprochen, sondern gesungen werden. Gesungenes Vokabular für Klangphänomene ist theoriefrei, weil es den Klang unmittelbar sinnlich darstellt, während theoretische Fachbegriffe aus der Harmonielehre nur mit Vorerfahrung und Theoriekenntnis in klingende Musik übertragen werden können. Solmisation ist musizierbares Material und lässt die Musik direkt spüren. Das Spüren wird zum Ausgangspunkt für das theoretische Verstehen.
Durch die Silben kann ich Tonbeziehungen unterscheiden, ihre tonale Charakteristik wird bloßgelegt. Der diatonische Affekt tritt hervor. Durch die Einkleidung in die Silben erkennbar dringt er bei häufiger Begegnung in die Erinnerung ein. Handgesten – sie symbolisieren die Silben und den Affekt – werden heute dazugenommen, um diesen Vorgang kinästhetisch zu verstärken. Die Bindung an die Silben und Handgesten wird später überflüssig. Der Affekt wird dann ­ohne Einkleidung erkannt. Erfahrungsgemäß wird die Solmisation auch weiter genutzt, wenn sie nicht mehr zum Auslösen basaler Erfahrungen benötigt wird. Das Zusammenhänge darstellende Vokabular behält auch für Erfahrene seine klärende Bedeutung und seinen ästhetischen Reiz.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2009.