Weise, Dorothea
Musik als Bewegung
Übertragung von Phrasierungsmodellen aus dem Tanz auf das Hören
Wie werden Betonungsmuster, Artikulation und Phrasierung in der Musik wahrgenommen? Aus der von Rudolf von Laban entwickelten Bewegungslehre können grundlegende Phrasierungsprinzipien abgeleitet, in Bewegung realisiert und in Bezug zu Musik angewendet werden. Dadurch eröffnet sich ein körperorientierter Zugang für die der Musik innewohnende Bewegung.
Phrasen strukturieren den zeitlichen und dynamischen Verlauf in Musik und Bewegung. Von der Vorbereitung für den Beginn einer Phrase (beim Musizieren etwa das Einatmen, das Heben der Hände, die Einstellung des Muskeltonus, um den Phrasenanfang gemäß seiner Aussage stimmig ausführen zu können) über die Binnenartikulation der Phrase selbst (Betonungen, schwächer/stärker werden, unterbrechen etc.) bis zum Phrasenende (auslaufend, akzentuiert) gilt es, unterschiedliche Glieder einer Phrase als eine in sich geschlossene Sinneinheit zu begreifen.1
Auch im Alltag setzen wir zu Bewegungen an, führen sie je nach Funktion dynamisch aus und beenden sie. Oft sind es Gegenstände, mit denen wir hantieren, die den Ablauf der Phrasierung bestimmen, etwa wenn wir uns umdrehen, um eine Schranktür zu öffnen, etwas schwungvoll herausnehmen, vorsichtig hinstellen und die Schranktür mit einem Schubs wieder schließen.
Phrasierung und Bewegungsantrieb
Der Bewegungstheoretiker, Tänzer und Choreograf Rudolf von Laban (1879-1958) beschäftigte sich intensiv mit dem Bewegungsantrieb. Er betrachtet ihn als Beziehung zwischen Anspannung und Entspannung, wobei sich die Nuancierungen aus den unterschiedlichen Aktivitätsgraden ergibt. Entspannung ist nach seiner Auffassung ebenfalls ein aktiver Prozess. Er kann in Bewegung münden, z. B. beim kontrollierten Sinkenlassen eines Arms. Sein Konzept der acht Antriebsaktionen (efforts) basiert auf jeweils kontrastierenden Werten in den Parametern Raum (flexibel – direkt), Zeit (allmählich – plötzlich) und Schwerkraft (zart – fest). Wird jeweils ein Wert aus jedem Parameter zusammengeführt, ergeben sich die acht Antriebselemente Drücken, Flattern, Stoßen, Schweben, Wringen, Tupfen, Peitschen, Gleiten. Hinzu kommt das Element des Bewegungsflusses, welcher frei (geringes Maß an Kontrolle) und gebunden (stark kontrolliert) sein kann und zu Variationen der Antriebsaktionen beiträgt.2
Laban selbst hat die Kombination von Antriebselementen, aus denen Bewegungsphrasen entwickelt werden, „Aktionsrhythmen“3 genannt und weist auf die Verbindung von Aktionen im Alltag hin, wenn er beispielhaft das leichte Schlagen mit dem Schneebesen als Flattern beschreibt, das durch Kraftsteigerung und stärker kontrollierten Bewegungsfluss zum Peitschen wird. In der Fortführung seiner Arbeit durch Irmgard Bartenieff, Vera Maletic4 und Antja Kennedy5 wurde der Begriff des phrasings (dt. Antriebsphrasierung) etabliert. Es sind dies Grundtypen von Phrasierung, die ein einziges Element enthalten können – in dem Fall würde dies in der Musik eher als Artikulationsform beschrieben – oder die Kombination von mehreren, wobei durch An- und Abschwellen von Tempo und Krafteinsatz auch fließende Übergänge möglich sind.
Die im Folgenden vorgestellten sechs ausgewählten Grundtypen von Phrasierung bieten ein Fundament für einen bewegungsorientierten Zugang zum Thema Phrasengestaltung beim Hören und Spielen von Musik. Dabei ist zu bemerken, dass aus Sicht der Sport- und Tanzpädagogik der Begriff der Phrase nicht gleichbedeutend mit der Auffassung in der Musiklehre ist, in der eine Phrase aus mehreren Motiven bestehen kann, die in der Bewegung je einzelnen Phrasen zugeordnet würden. So wird etwa bei Laban/Bartenieff die Möglichkeit eingeräumt, eine einzige Bewegung als kurze Phrase aufzufassen.6 Mit dem Begriff der Körperphrasierung wird die zeitliche Koordination der einzelnen Körpersegmente untereinander – in der Musik vergleichbar mit unterschiedlichen Stimmen – mit den Varianten simultan, sukzessiv und sequentiell beschrieben.7 In der Sportpädagogik wird die Phasengestaltung von Bewegungsabläufen in ihrer rhythmischen Erscheinung betrachtet, deren Verlauf als zyklisch oder azyklisch beschreibbar ist.
Fließend und unbetont
Kontinuität in Raum und Zeit sind kennzeichnend für das flowing. Fließende Bewegungen können mit dem Bild des Malens von runden Linien, geführt von einem Körperteil aus umgesetzt werden: Mit den Fingerspitzen einer Hand als Pinsel soll der Raum um den Körper herum bemalt werden, dann mit beiden Händen gleichzeitig, später vom Ellbogen, von einer Fußspitze, vom Knie, vom Kopf oder von einer Hüfte aus. Musikalisch entspricht diese Phrasierungsart der Artikulationsform legato.
Bewegungsfluss lässt sich durch allmähliche Veränderungen von Tempo und Widerstand in seiner Qualität variieren, etwa wenn sich in der Vorstellung die Luft in geschmolzenen Käse verwandelt. In der Bewegung zu Musik kann weiter differenziert werden, wenn bei Beginn einer neuen Phrase das führende Körperteil gewechselt wird. Ein hierfür geeignetes kurzes Musikstück ist das „Lentamente“ aus Sergei Prokofievs Visions fugitives für Klavier op. 22.
Weitere Musikbeispiele:
– Witold Lutoslawski: Dance Preludes für Klarinette und Klavier: II. Andantino (Mittelteil: rebound, s. Phrasierungsform „federnd“)
– Samuel Barber: Adagio for Strings
1 vgl. hierzu auch den Beitrag „Phrasierung“ der Diplom-Bewegungswissenschaftlerin Bettina Rollwagen und der Rhythmikerin Elisabeth Pelz in: Steffen-Wittek, Marianne/Weise, Dorothea/Zaiser, Dierk (Hg.): Rhythmik – Musik und Bewegung. Transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2019, S. 281-298.
2 von Laban, Rudolf: Der moderne Ausdruckstanz in der Erziehung, Wilhelmshaven 1981, S. 50.
3 ebd., S. 90.
4 Maletic, Vera: Dance Dynamics. Effort & Phrasing, Columbus Ohio 2005.
5 Kennedy, Antja (Hg.): Bewegtes Wissen. Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien verstehen und erleben, Berlin 2010, S. 81-91.
6 ebd., S. 81 f.
7 ebd., S. 83.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2023.