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Farag, Laila

Musik für eine Stadt

El Sistema an der Musikschule „Trillargento“ in Genua

Rubrik: Musikschule
erschienen in: üben & musizieren 3/2023 , Seite 36

Bereits seit über zehn Jahren wird an der Musikschule „Trillargento“ in Genua ein Projekt in Anlehnung an Juan Anton Abreus „El Sistema“ umgesetzt.1 „Tril­largento“ hat sich damit zu einer der wichtigsten Musikschulen Genuas ent­wickelt und bildet jedes Jahr hunderte MusikerInnen im Rahmen des breit gefächerten Bildungsangebots aus.

Auf Grundlage der Idee, unabhängig von sozialen, kulturellen und ökonomischen Fak­toren eine integrierende Musikschule für alle Kinder und Jugendliche in Genua zu schaffen, gründete Matteo Guerrieri 2012 nach dem Vorbild des venezolanischen Modells „El Sistema“ die Musikschule „Trillargento“. Der Name setzt sich aus den Worten „trillare“ (das Erklingen von Glocken) und „argento“ (Silber) zusammen und verweist damit auf die silbern leuchtende und kraftvolle Energie der Kinder und Jugendlichen beim Musizieren, wie Guerrieri im Vorstellungsvideo der Schule erklärt.2
Musik für alle: Was nach einem Werbeslogan klingt, ist bei „Trillargento“ die Leitidee. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass auch Kinder mit Behinderungen nicht ausgeschlossen werden, z. B. im „Coro Mani Bianche“ als Kinderchor, bei dem Kinder mit sprachbezogenen Behinderungen durch den Einsatz von Gesten teilhaben können. Darüber hinaus wurde ein Tarifsystem entwickelt, nach dem jede Familie den Beitrag in Abhängigkeit der Einkommensstufe zahlt. Der Großteil der Finanzierung wird durch vom Staat geförderte soziale Projekte geleistet, an denen die SchülerInnen der Musikschule ebenfalls mitwirken und zugleich ihr Gemeinschaftsgefühl stärken können.

Instrumentalunterricht

Unterricht können Kinder ab fünf Jahren bis zum Ende des Gymnasiums erhalten. Die genauen Altersstrukturen werden sich erst künftig ergeben, da die erste Genera­tion von „Trillargento“-Kindern dieses Alter noch nicht erreicht und der Projektträger Interesse an der Erweiterung des Angebots hat. Schon jetzt gibt es Unterrichtsmöglichkeiten für Erwachsene mit einem daran angeschlossenen Orchesterangebot, das „Orchestra Grandi“.
In den ersten zwei Jahren erwerben die SchülerInnen grundlegende Spieltechniken auf ihrem Instrument sowie musiktheoretische Kenntnisse als Vorbereitung für das Orchesterspiel, das ab einem Alter von sieben Jahren beginnt. Unterrichtet werden nur Orchesterinstrumente, zurzeit alle Streichinstrumente, Querflöte, Klarinette, Trompete, Schlagzeug und seit Kurzem auch Posaune. Die noch fehlenden Orchesterinstrumente sollen in den nächsten Jahren hinzukommen. Alle Kinder erhalten eine Einheit Instrumentalunterricht pro Woche, je nach Anzahl der Teilnehmenden von 45 Minuten (Einzelunterricht), 60 Minuten (Partnerunterricht) oder 90 Minuten (Gruppenunterricht mit drei SchülerInnen). Entsprechend der sozialen Projektziele wird jedoch eine Mindestanzahl von zwei SchülerInnen angestrebt, damit diese sich gegenseitig unterstützen und voneinander lernen können.
Musikbezogenes Hauptziel des Instrumentalunterrichts ist es, die jeweiligen Stimmen für die Orchesterproben zu erarbeiten und musiktheoretische Grundkenntnisse zu erwerben. Auf diese Weise tritt das solistische Repertoire in den Hintergrund, sodass auch solistische Aufführungen nicht Teil des Projekts sind. Neben dem Instrumentalspiel selbst werden vor allem auch Bodypercussion und Singen eingesetzt, sodass die SchülerInnen bei der Erarbeitung eines neuen Stücks zunächst den Rhythmus mithilfe von Bodypercussion spielen, bevor sie das Stück singen und zuletzt auf das Instrument übertragen. Auf diese Weise sollen die SchülerInnen die Relevanz von Körper und Stimme für das Instrumentalspiel erfahren und lernen, diese gezielt für das Musizieren(lernen) einzusetzen.
Als Literatur werden die Vamoosh-Lehrwerke von Thomas Gregory verwendet, die für alle Orchesterinstrumente und für unterschiedliche Niveaustufen verfügbar sind. Damit soll sichergestellt werden, dass die SchülerInnen ungefähr dasselbe Niveau haben, um gemeinsam Orchesterstücke spielen zu können. Dennoch sind die Lehrenden grundsätzlich frei in ihrer Entscheidung, auf welche Art und Weise sie die spieltechnischen und musiktheoretischen Aspekte vermitteln wollen.

Orchester

Zusätzlich zum Instrumentalunterricht findet jede Woche (für die jüngeren SchülerInnen jede zweite Woche) eine große gemeinsame Probe statt, die aus einer Stunde Chorprobe, einer Stunde Orchesterprobe sowie einer Stunde Registerprobe für SchülerInnen ab der Mittelstufe besteht. In der Chorprobe werden gemeinsam neue Chorstücke erarbeitet, die bei den Orchesterkonzerten auch zur Aufführung kommen. Hier wird deutlich, dass ebenso wie im ­Instrumentalunterricht das Singen in den Orchesterproben eine zentrale Rolle einnimmt – zum einen zur Entwicklung des musikalischen Gehörs, zum anderen zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls auch außerhalb des Orchesterspiels.
Für die Orchesterarbeit werden die SchülerInnen in drei Altersstufen unterteilt: das „Orchestra Bambini“ (7-9 Jahre), das „Orchestra Giovanissimi“ (10-14 Jahre) und das „Orchestra Ragazzi“ (ab 15 Jahre). Während sich Orchestra Bambini und Orchestra Giovanissimi mit ihren großen Orchesterproben am Samstag im vierzehn­tägigen Turnus abwechseln, probt das Orchestra Ragazzi jede Woche, normalerweise an Wochentagen der Schulwoche. Der vierzehntägige Rhythmus der „Bambini“ und „Giovanissimi“ ist hauptsächlich durch die begrenzten Räumlichkeiten begründet. Auch wenn zusätzliche Räume für die Orchesterproben außerhalb der zwei Hauptstandorte der Musikschule geschaffen wurden, bieten diese leider nicht ausreichend Raum für das parallele Proben von zwei Orchestern. Genug Platz gibt es jedoch für getrennte Registerproben der Streicher und Bläser, bei denen in der Regel immer eine Lehrperson pro Instrument dabei ist, um die Kinder auf der instrumentenspezifischen Ebene fachlich betreuen zu können.

Lehrende

Der Großteil der „Trillargento“-Lehrenden befindet sich in den letzten Jahren des Studiums oder kurz nach dem Abschluss des Musikstudiums. Damit ist das Kollegium sehr jung, was im Sinne der sozialen Projektziele genutzt und als hilfreich erachtet wird. Musikpädagogische Vorkenntnisse sind nicht zwingende Voraussetzung, die Lehrenden erhalten allerdings zahlreiche Fortbildungen mit El Sistema-Lehrenden zu fachdidaktischen Aspekten und den sozialen Zielen des Projekts. Und mit der Einstellung an der Musikschule werden sie vorab in drei Tagen in die Grundidee von „Trillargento“ eingeführt, in der nicht nur die musikbezogene Förderung, sondern vor allem auch die Förderung der persönlichen Entwicklung der SchülerInnen im Zent­rum steht. Nach der dreitägigen Ausbildung können die Lehrenden anfangen zu unterrichten, wobei sie von pädagogisch erfahrenen Kolleginnen und Kollegen betreut werden, um zu professionellen „Trillargento“-Lehrkräften zu werden. Darüber hinaus erhalten alle Lehrenden Zugang zu einer Cloud mit einer Vielzahl an Unterrichtsmaterialien für das Instrumentalspiel und für Musiktheorie, an denen sie sich orientieren können.
Monatliche Versammlungen der Lehrkräfte tragen dazu bei, dass auch unter den Lehrenden ein gutes Miteinander gegeben ist. Als weitere Maßnahme, auch zur Förderung von Gesundheit und Berufszufriedenheit, werden gemeinsame Sitzungen mit einer Psychologin oder einem Psychologen veranstaltet, die den Lehrenden durch Supervision dabei helfen, mit herausfordernden Situationen, SchülerInnen und Eltern umgehen zu können.

Fazit

Vergleicht man die zentralen Merkmale des „Trillargento“-Projekts mit der Grundidee von El Sistema, sind zwei Unterschiede erkennbar: Während bei El Sistema auch die Gründung eines Exzellenzorchesters Ziel ist, steht bei „Trillargento“ ausschließlich die Neuqualifizierung sozialer Brennpunkte Genuas im Zentrum, sodass das Projekt einen kommunalen, sozialpolitischen Schwerpunkt hat. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die SchülerInnen nicht auch zu künftigen „Trillargento“-Lehrenden ausgebildet werden sollen. Im Zentrum steht das individuelle Erleben von Spaß am Musizieren in der Gemeinschaft.
Die zunächst kleine Musikschule mit dem Ziel, Entwicklungsprozesse in sozialen Brennpunkten durch ein Musizierprojekt voranzubringen, hat sich innerhalb kürzester Zeit inhaltlich und im Umfang enorm entwickelt. Die Musikschule „Trillargento“ steht heute für eine qualitätvolle musikalische Ausbildung. Neben der Motivation für Musik und das Musizieren geht es dabei zentral um die Vermittlung von Werten des Miteinanders durch gemeinsames Musizieren. Damit ist „Trillargento“ eine musikalische Realität, die zum einen die Stadt Genua bereichert und zum anderen die Leidenschaft für die Musik an viele Kinder vermittelt und auch künftig vermitteln wird. „Trillargento“ prägt auf diese Weise die musikkulturelle und soziale Zukunft der Menschen der Stadt.

1 www.trillargento.org/il-progetto/trillargento (Stand: 4.5.2023).
2 https://youtu.be/NjwBjUddvEs (Stand: 4.5.2023).
3 www.ilsecoloxix.it/genova/2015/12/11/news/una-casa-di-quartiere-per-il-lagaccio-1.31701916 (Stand: 4.5.2023).

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 3/2023.