Mahlert, Ulrich

Musik im Freien

Claude Debussy: The little Shepherd

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 1/2014 , Seite 24

“The little Shepherd”: ein Klavier­stück für Kinder – dabei keineswegs ver­niedlichend oder kindertümelnd. Ein relativ einfach zu spielender Notentext – und doch durchaus anspruchsvoll, was Zeit- und Klanggestaltung, Erzeugung von Atmosphären, Erfassung und feine Pointierung von Charakteren betrifft. Miniatur – und doch große Klaviermusik.

Claude Debussy komponierte The little Shep­herd 1908 für seine damals fünfjährige Tochter Chouchou und veröffentlichte es als Nr. 5 des Zyklus Children’s Corner. Den Titel der Sammlung bezog er von den für Kinder bestimmten Seiten in englischen Zeitungen. Mit den englischsprachigen Titeln des Zyklus und der Stücke bekundete Debussy seine Sympathie für englische Mentalität und Lebensart.
Einige typische Qualitäten von Debussys Kunst lassen sich an The little Shepherd exemplarisch beobachten, üben und realisieren. Die Linienbewegung der Arabeske, der weite Klangraum, die klanglich evozierte Naturszenerie, die Verwendung modaler Tonarten und nicht zuletzt der dezente Humor, der sich im Wechselspiel unterschiedlicher Idiome und Strukturen entfaltet – dies sind einige der Eigenschaften des kleinen Stücks, die Debussy subtil handhabte und austarierte.

Arabeske

Debussy stand der Ästhetik der Art nouveau, der französischen Erscheinungsform des Jugendstils, nahe. Wie in bildender Kunst liebte er auch in der Musik eine kunstvolle, wohlproportionierte, ornamental konzipierte Linearität. Arabeskenhafte musikalische Linien, die sich allmählich einschwingen und in einem naturhaften, „organisch“ wuchernden Wechselspiel von steigenden und fallenden Kräften entfalten, finden sich in vielen seiner Werke.1
Auch The little Shepherd hebt mit einer Arabeske an. Von dem frei in den Klangraum gesetzten und eine Weile gehaltenen Ton gis” aus gleitet die Linie, sich beschleunigend und so gleichsam der Schwerkraft folgend, eine Sexte abwärts, federt vom erreichten Grundton h’ durch die Wirkung der Gegenkraft wieder nach oben, gleitet erneut etwas abwärts und läuft im gehaltenen Ton d’ aus. Nur diese Arabeske erklingt im Klangraum, keine Begleitung stützt sie; luftig schwebt sie in der weiten Landschaft der pastoralen Szenerie. Der Schäferjunge spielt auf seiner Schalmei, er erprobt sie, beginnt mit einem langen Ton, lauscht ihm nach und spinnt ihn improvisierend fort.
So entsteht in den ersten beiden Takten eine anmutige Tonfolge in dorischer Tonart. Die modale Skala auf h färbt die Kontur ein wenig archaisch und ermöglicht die Vorstellung einer arkadischen Szenerie, in der Schäfer und Herden glücklich beisammen sind. In Takt 3 stockt der Spieler. Er hält inne auf dem Ton d’. Was nun bis zum Ende von Takt 4 folgt, ist vielleicht ein echohaftes Wechselspiel unseres Hirten mit einem anderen. Dieser antwortet aus der Ferne mit einem d’, dem er eine Vorschlagsnote voranstellt – der erste Hirte erwidert ihm entzückt und mit Nachdruck (mf), der andere einmal mehr aus der Ferne (p). Mit den ansteigenden Vorschlagsnoten der Echotöne verlässt der Klangraum in diesem Wechselspiel die dorische Skala und öffnet sich in die halbtonlose Weite der Pentatonik.
Die Beschreibung des Beginns deutet bereits an, worauf es bei der Wiedergabe ankommt: Die Arabeske soll frei mit den in weiter Landschaft er- und verklingenden Tönen anheben; die Linie soll ohne rhythmische Ecken und Kanten anmutig improvisiert wirken und wiederum ruhig ausschwingen. Als Übung können mit den Tönen der dorischen Skala auf h kleine Arabesken nach dem beschriebenen Gestaltprinzip improvisiert werden. Das Wechselspiel der beiden Hirten klingt schön, wenn die langen Töne durch unterschiedliche Färbung Nähe und Ferne suggerieren und ein intensives Nachlauschen des Spielers dem Hörer die Vorstellung einer weiten Naturszenerie vermittelt.

1 s. dazu Ulrich Mahlert: „Die ,göttliche Arabeske‘. Zu Debussys ,Syrinx‘“, in: Archiv für Musikwissenschaft 43 (1986, Heft 3), S. 181-200.

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