Lessing, Wolfgang

Musik ist die wichtigste Kulturleistung der Menschheit überhaupt

Gespräch mit dem Neuropsychologen Lutz Jäncke über die Transfereffekte des Musizierens

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 2/2010 , Seite 42

Lutz Jäncke ist Professor für Psychologie und Neuropsychologie an der Universität Zürich. Seit Jahren beschäftigt er sich mit den so genannten Transfereffekten in der Musik – also etwa der Frage, ob und inwieweit das aktive Musizieren Auswirkungen auf andere kognitive Bereiche hat. Mit seinem Buch „Macht Musik schlau?“ gibt er einen detaillierten Überblick über bisherige Forschungs­ergebnisse und den derzeitigen Forschungs­stand.

Lieber Herr Jäncke, vielleicht ein Wort vorweg: Als jemand, zu dessen Aufgabenbereich es unter anderem auch gehört, den Studierenden des Studiengangs Musikpädagogik Kenntnisse aus dem Bereich der Musikpsychologie zu vermitteln, stelle ich fest, dass Ihr Buch den Studierenden in hervorragender Weise eine Vorbereitung für Prüfungen, Klausuren etc. ermöglicht. War das die Zielgruppe, die Sie beim Schreiben im Auge hatten?
Nein, eigentlich nicht. Ich habe das Buch aus einer anderen Intention heraus geschrieben. Es gibt hinsichtlich der Frage, ob das Hören von Musik oder gar das eigene aktive Musizieren Auswirkungen auf andere kognitive Bereiche hat, nämlich eine ganz merkwürdige Befundlage. Auf der einen Seite gibt es eine Reihe von Ansichten, die ich mal als Mythen bezeichnen möchte, die in der Öffentlichkeit sehr präsent sind, obgleich ihre Ergebnisse doch zum Teil erhebliche Zweifel gestatten. Zum anderen gibt es aber eine Fülle von sehr bemerkenswerten und faszinierenden Ergebnissen, die jedoch immer wieder mit diesen Mythen zu kämpfen haben. Mit meinem Buch wollte ich auf eine zugleich lockere wie auch wissenschaftlich präzise Weise diese Ergebnisse einem breiten Publikum bekannt machen. Was dabei herausgekommen ist, scheint aber – und insofern trifft Ihre Einschätzung ganz genau zu – für die Zielgruppe, die ich ursprünglich im Auge gehabt hatte, doch etwas zu komplex geraten zu sein. Insofern glaube ich auch, dass das Buch sich vor allem an Musikstudenten und Musiklehrer richtet. Für die so genannten „inte­ressierten Laien“ planen wir derzeit eine einfachere und auf weniger Voraussetzungen beruhende Version des Buchs.

Mit zwei dieser so genannten Mythen setzen Sie sich zu Beginn des Buchs sehr kritisch auseinander – ich denke hier insbesondere an Ihre Darstellung des berühmten „Mozart-Effekts“ und der „Bastian-Studie“. Gerade von der letztgenannten bleibt ja kaum noch etwas übrig. Wer die beiden Anfangskapitel gelesen hat, wird vielleicht zu dem Schluss kommen, dass die im Buchtitel etwas ironisch gestellte Frage „Macht Musik schlau?“ von Ihnen skeptisch bis negativ beantwortet wird. Erst beim Weiterlesen merkt man, dass Sie die Transfereffekte des Musizierens überhaupt nicht in Zweifel ziehen – im Gegenteil! – , aber anscheinend mit bestimmten methodischen Vorgehensweisen Probleme haben.
Ganz genau. Der Aufbau des Buchs spiegelt eigentlich ein bisschen meine eigene Geschichte wieder. Als ich angefangen habe, mich mit Transfereffekten in der Musik zu beschäftigen, musste ich feststellen, dass diese Arbeit immer wieder in eine Ecke gestellt wurde mit Studien, deren methodisches Vorgehen man zu Recht kritisieren konnte. Gerade auch durch die zum Teil völlig übertriebenen Medienresonanzen – ich denke an Schlagworte wie „zusätzlicher Musikunterricht steigert die Intelligenz und verbessert das Sozialverhalten“ – wurde die ganze Forschungsrichtung, die sich mit Transfereffekten beschäftigte, von vielen mit Skepsis betrachtet oder zum Teil auch gar nicht ernst genommen. Diese Skepsis ist aber nur zum Teil gerechtfertigt gewesen, denn in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren hat sich unglaublich viel in diesem Bereich getan – und das ist nun leider von der Musikwissenschaft und Musikpädagogik bislang noch gar nicht richtig zur Kenntnis genommen worden, weil man sich eben immer noch allein auf die publicityträchtigen Studien bezieht, die eben häufig methodisch fragwürdig waren.

Hat die Entwicklung, von der Sie sprechen, auch etwas mit den Fortschritten in den Neurowissenschaften zu tun?
Natürlich, obgleich die Neurowissenschaften alleine nicht ausreichen, wenn es um eine wirklich tragfähige Theoriebildung gehen soll. Im Grunde müssen – und das ist unsere große Aufgabe – die Bereiche der Kognitionspsychologie und der Neurowissenschaften, die ja zwei völlig eigenständige und getrennte Sprachen sprechen, aufeinander bezogen werden. Und wo das gelingt, können wirklich spannende Erkenntnisse gewonnen werden. Ich denke da etwa an den gesamten Komplex „Musik und Sprache“. Hier hat sich unglaublich viel getan. Früher hat man ja noch pauschal gesagt, dass beide Bereiche nichts miteinander zu tun haben. Das ging so weit, dass man die Sprache der linken und die Musik der rechten Gehirnhälfte zugeordnet hat. Das ist natürlich völlig überholt.

Vielleicht können wir hier etwas ins Detail gehen und uns diesen Bereich einmal etwas genauer ansehen. Sie verweisen in Ihrem Buch auf in der Tat sehr inte­ressante Ergebnisse – etwa die Tatsache, dass Versuchsteilnehmer, die bessere Leistungen bei Ton-, Klang-, Rhythmus- und Melodieaufgaben erzielten, auch in den phonologischen Aspekten des Fremdsprachen-Lernens bessere Resultate aufwiesen. Mit die­sem Befund lässt sich dann auch ein Zusammenhang zwischen musikalischer Erfahrung und Lese- bzw. Schreibfähigkeit herstellen, die ja auch in hohem Maße von der phonologischen Bewusstheit – also der Fähigkeit, die Lautstruktur der Sprache zu erkennen – abhängt. Bemerkenswert erscheint mir auch die Erkenntnis, dass durch Musik semantische Netzwerke voraktiviert werden. Auf welcher Grundlage beruhen diese Transfereffekte?
Zunächst muss man sagen, dass sich das Verhältnis von Musik und Sprache auf sehr unterschiedlichen Ebenen abspielt. Auf einer ganz basalen Stufe: Beides sind akustische Ereignisse und werden vom Gehirn als solche auch identisch behandelt. Es wäre im höchsten Grade unökonomisch, wenn unser Gehirn auf dieser elementaren Ebene unterschiedliche Verarbeitungsmechanismen anwenden würde. Als nächste Gemeinsamkeit lässt sich sagen, dass sowohl Sprache als auch Musik syntaktische Strukturen aufweisen. Auch das ist an sich noch nichts Geheimnisvolles: Syntax meint für mich zunächst einmal ein in sequenzieller Reihenfolge geordnetes Regelsystem. Dass es auf dieser Grundlage viele Überschneidungen gibt, die dann Transfereffekte zur Folge haben, ist eigentlich nicht verwunderlich. Obgleich ich gestehen muss, dass ich selbst noch vor ca. zehn Jahren die Frage, ob Musik etwas mit Lesefähigkeit zu tun hat, verneint hätte… Eine dritte Ebene haben Sie bereits angesprochen: In der Tat scheinen bestimmte Musikstücke, Töne, Klänge oder Klangsequenzen automatisch semantische Ähnlichkeiten zu Objekten hervorzurufen. Besonders interessant scheint mir ein möglicher Zusammenhang zwischen Sprachmelodie und musikalischer Struktur. Dass manche Musik etwa typisch französisch oder typisch englisch klingt, ist kein Zufall. Experimentell konnte gezeigt werden, dass die Vokaldauern und Grundfrequenzen der ge­sprochenen Vokale in den unterschiedlichen Sprachen differieren. Von diesem Befund ausgehend lassen sich Verbindungen zu bestimmten charakteristischen Inter­vallfolgen bei einzelnen Komponisten ziehen.

Für mich stellt sich an dieser Stelle natürlich die Frage, wie Sie mit der Musik des 20. Jahrhunderts umgehen, ich meine hier die im emphatischen Sinne „neue“ Musik. Bei dieser Musik ist ja immer wieder der Verlust oder auch die bewusste Abkehr vom „Sprachcharakter“ betont worden. Dieser Sprachcharakter der Musik vom Barock bis zur Spätromantik wurde in hohem Maße durch die syntaktische und strukturbildende Kraft der Tonalität begründet. Bezie­hen sich die von Ihnen dargestellten Transfereffekte damit nicht auf einen zeitlich relativ eng gefassten Musikbegriff?
Das denke ich eigentlich nicht. Es ist immer die Frage, wie man Syntax definiert. Wenn man darunter, wie ich gerade gesagt habe, ein sequenziell geordnetes Regelsystem versteht, dann finden sich syntaktische Elemente überall dort, wo regelhafte Zusammenhänge erkannt werden. Unter diesem Gesichtspunkt haben sogar auch motorische Akte eine Syntax. Es wäre natürlich spannend, das einmal genauer im Zusammenhang mit Atonalität zu untersuchen.

Mir fällt auf, dass in Ihrem Buch relativ wenig über die musikpädagogischen Konsequenzen gesprochen wird, die aus diesen Transfereffekten resultieren.
Das hängt damit zusammen, dass ich noch nicht weit genug bin, um hier etwas grundsätzlich sagen zu können. Sicherlich ist es Unsinn, Musikunterricht mit dem Argument zu rechtfertigen, Musik mache intelligenter. Denn obgleich es signifikante Hinweise gibt, die darauf hindeuten, dass die IQ-Punkte durch das Musikmachen in geringem Maße erhöht werden, könnte man doch immer und völlig zu Recht einwenden, dass sich diese Effekte auch mit anderen Mitteln herbeiführen lassen. Wahrscheinlich kann man mit einem gezielten und direkten Training von Intelligenz- und Gedächtnisfunktionen in kürzerer Zeit mehr erreichen als durch ein aufwändiges Musiktraining. Was man auf jeden Fall sagen kann, ist, dass durch Musikhören und Musikmachen die Exekutivfunktionen – Aufmerksamkeit, Selbstdisziplin – auf eine sehr elegante Weise gestärkt wer­den. Das gilt sowohl für Kinder wie auch für ältere Menschen, die ja häufig unter dem Verlust dieser Exekutivfunktionen leiden. Wir wissen heute, dass der aktive Umgang mit Musik einen sehr günstigen Einfluss auf unser Denken und auf die Hirnentwicklung hat. Ältere Menschen, die im Rentenalter intensiv musizierten, tanzten oder Brettspiele spielten, wiesen später seltener Demenzen auf. Das hat damit zu tun, dass Musik eben wirklich eine Form des Denkens ist. Muster­erkennung, Verknüpfung und Antizipation von Ereignissen: Das alles findet in der Musik ja statt und wird auf eine sehr angenehme – weil nämlich genussreiche – Weise trainiert. Und eben weil Musik eine Funktion des Denkens ist, kann man mit ihrer Hilfe auch in besonderer Weise kulturelle und historische Zusammenhänge erfassen. Beim Hören von Barockmusik bekommt man wahrscheinlich einen weitaus genaueren Einblick in das Denken und Fühlen dieser Zeit, als dies auf andere Weise möglich wäre. Insofern ist Musik wirklich eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Kulturleis­tung der Menschheit überhaupt. Und aus dem Grunde ist ein verstärkter Musikunterricht absolut notwendig. Jede Möglichkeit, die von einer dumpfen und passiven Berieselung hin zu einer aktiven Auseinandersetzung mit Musik führt, muss genutzt werden!

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